Gerron - Lewinsky, C: Gerron
sich vor aller Augen die Richtige für ein Schäferstündchen auszusuchen, während man doch ganz genau weiß …
Das ist schwer. Das hätte nicht jeder geschafft.
Ich könnte mir in Rahms Film eine Hauptrolle hineinschreiben. Einen letzten großen Auftritt. Der Conférencier: Kurt Gerron. Bekannt von Bühne und Leinwand. Könnte die Lügen, die Rahm von mir haben will, einzeln anpreisen. Mit blankpolierten Superlativen. Das hat er doch bestellt, der liebe Onkel Rahm: jede Menge Hokuspokus-Nummern und Damen ohne Unterleib.
Frack und Zylinder könnte ich mir ins Drehbuch schreiben. Ein Zirkuskostüm, wie ich es im Blauen Engel anhatte. Nur den Bauch unter der Weste müsste ich mir ausstopfen. Er ist nicht mehr so imposant wie früher. In Lackschuhen durch Theresienstadt spazieren und die Attraktionen anpreisen. «Herrreinspaziert, meine sehr verehrten Herrschaften! Treten Sie näher, treten Sie ein! Hier ist alles schön, hier ist alles fein!» Ein Frackhemd mit Rüschen und die Brust voll klimpernder Orden. «Sehen Sie hier unser Kaffeehaus! Immer die neuesten Zeitungen aus aller Welt! Mit garantiert nur guten Nachrichten! Die Kaffeebohnen jeden Tag frisch geröstet aus Wien eingeflogen und die Schwarzwälder Torten direkt aus dem Schwarzwald!» Einen Zeigestock in der Hand, wie sich das gehört für einen Jahrmarktschreier. «Und hier, meine Damen und Herren, unsere Diätklinik nach Dr. Fletcher! Um die überflüssigen Pfunde wieder loszuwerden, die man sich bei der reichhaltigen TheresienstädterErnährung anfrisst!» Vor jeder Ansage Trommelwirbel und Tusch. «Kommen Sie, sehen Sie, staunen Sie! Unser Luxushotel, genannt die Kleine Festung! Dieses Haus hat noch nie ein Gast unzufrieden verlassen! Dieses Haus hat überhaupt noch nie jemand wieder verlassen!»
Vielleicht doch kein Frack. Ein Münchhausen-Kostüm. Das wunderbarste Ghetto der Welt, präsentiert vom Meisterlügner persönlich.
Wenn man sich in Phantasien wirklich verstecken könnte, würde mich nie wieder jemand finden.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich so ein Drehbuch tatsächlich schreiben würde … Es Rahm vorlegen. Mit ernsthaftem Gesicht. Vielleicht würde er darauf reinfallen. Zumindest für ein paar Stunden. Ironie ist nicht sein Fach. Wer immer nur Befehle erteilt, verliert das Gehör für Zwischentöne. «Gut gemacht, Gerron», würde er sagen und mir eine Belohnung überreichen lassen. Einen Beutel voller Gold oder, noch viel wertvoller, ein Stück Brot. Mit richtiger Butter.
Das er dann wieder aus mir herausprügeln lassen würde, wenn er die Ironie begreift. Oder wenn sie ihm jemand erklärt.
Im Kabarett gibt es immer wieder mal Zuschauer, die beleidigt sind, weil die andern schon lachen, und sie die Pointe immer noch nicht verstanden haben. Die machen dann böse Zwischenrufe. Schmeißen mit Gläsern, wenn sie betrunken sind. Wenn sie Rahm heißen, setzen sie einen auf die Liste für den nächsten Transport. Oder lassen einen in die Kleine Festung einliefern. Wo einem das Lachen vergeht. Endgültig.
Trotzdem. Wenn ich mir vorstelle, wie Rahm das Drehbuch zuerst gut findet …
Ich sollte mich nicht in solche Ideen flüchten. Übermorgen will er meine Antwort haben. Ich darf die Zeit, die mir bleibt, nicht mit unsinnigen Träumen verschwenden.
Aber es tut so gut, der Wirklichkeit davonzulaufen. Darin sind wir hier geübt. In unsern Köpfen sind wir alle Schauspieler. Improvisieren uns die schönsten Heldenrollen in die Stücke. Wir habenuns daran gewöhnt, unsere Siege nur noch in der Theorie zu feiern. Nur noch im Konjunktiv zu triumphieren. «Der Konjunktiv ist die Zeitform der irrealen Wünsche», hat uns Oberstudiendirektor Dr. Kramm eingetrichtert. Er hätte auch sagen können: «Der Konjunktiv ist die Theresienstädter Zeitform.»
Ich hätte auch etwas anderes werden können.
Als wir unser Abitur gemacht hatten, als sie uns das Abitur nachgeschmissen hatten wie Ramschware bei einem Ausverkauf, da lief uns, als alles schon erledigt war, der Direktionsdiener hinterher – Hintze hieß er oder Kunze oder so ähnlich –, mit einer Liste, die man in der Eile auszufüllen vergessen hatte. Oberstudiendirektor Dr. Kramm ließ Listen zu jedem nur denkbaren Thema führen: Absenzen, Kreideverbrauch, Benutzung der Präparate aus dem Naturalienkabinett. Er trug deshalb bei seinen Schülern den Übernamen Odysseus, was er natürlich wusste, aber in seiner Eitelkeit als Kompliment deutete. Es hat ihm nie jemand die Herleitung von
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