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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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verlangte.
    Noch am gleichen Tag war die Wohnung leer, und weil wir jetzt so viel Geld hatten, gingen wir nicht zu Fuß nach Kriescht zurück, sondern ließen die Eisenbahn zu uns kommen, direkt vors Haus. Als wir abfuhren, standen die Leute Spalier und riefen «Hurra».
    Am Schlesischen Bahnhof wartete Mama auf uns und hatte große Angst um mich gehabt. Aber ich tröstete sie und sagte: «Du musst keine Angst mehr haben. Ich bin jetzt groß und weiß mich schon zu wehren.»
    Sie war sehr stolz auf mich.
     
    Aber so war es nicht.
     
    So war es: Ich schämte mich viel zu sehr und erzählte Papa nicht, was die drei großen Jungen mit mir angestellt hatten. Dass ich für sie ein Judski war, dass ich mich nicht hatte wehren können, und dass sie mich dort angeschaut hatten, wo mich niemand anschauen durfte.
    Er hat es nie erfahren.
    Niemand hat es erfahren.
    Ich war schon als Kind ein guter Phantasierer. Wenn mir die Wirklichkeit nicht gefiel – wann gefällt einem die Wirklichkeit schon? –, malte ich mir eine andere aus. Zuerst noch mit ungeschickten Strichen, wie Kinderzeichnungen eben sind, und dann, je älter ich wurde, mit immer mehr Einzelheiten und Schattierungen. In meinem Kopf drehte ich Filme, noch bevor ich wusste, dass es so etwas wie Kino gab.
    Das heißt nicht, dass ich unangenehme Tatsachen wegleugne. Ich wusste immer sehr gut, wie die Welt wirklich war, und vergaß es auch nicht. Ich zog es nur vor, sie mir ein bisschen zu verschönern. Meine Rolle umzuschreiben. Die Kunst – ja, es ist eine Kunst! – besteht darin, die Wirklichkeit nicht aus dem Stück zu streichen, sondern ihr eine falsche Nase zu kleben. Und zwar so, dass man den Mastix nicht riecht. Nicht irgendeine Nase, sondern eine, die schöner ist als die echte. Oder doch interessanter. Die Geschichten, die ich mir erzählte, mussten wahrer sein als die Wirklichkeit.
    Wahrer als die Wirklichkeit , darauf kommt es an. Die Realitätzupinseln kann jeder. Die Fensterläden verrammeln und sich vorlügen, dass es deshalb draußen nicht mehr regnet. Das Stück absetzen und das Theater leer lassen. Die Augen zudrücken oder mit offenen Augen blind sein. Das geht immer. Man kann sich auch in Theresienstadt noch einreden, es sei nicht passiert, was passiert ist. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
    Phantasie ist etwas anderes. Nur Künstler sind gute Lügner. Wenn Dilettanten eine Wahrheit erfinden wollen, sieht man die Kulissen wackeln.
    Solche erfundenen Wahrheiten müssen nicht ewig halten. Nur bis das Chanson gesungen oder die Szene gespielt ist. Nur bis zum nächsten Blackout.
    Mama hielt mich für einen Träumer, und Papa nannte mich Kurt-guck-in-die-Luft. Aber es war keine schlechte Angewohnheit. Es war ein Talent. Eins, das nicht jeder hat.
    Kalle war ein guter zweiter Mann. Ein Chargenspieler mit einer Vorliebe für Herrscherrollen. Aber er konnte sich seine Szenen nicht selber ausdenken. Natürlich sagte er schon mal: «Heute bauen wir einen Luftballon und fliegen damit zum Mond», aber das war dann nicht etwas im eigenen Kopf Entstandenes, sondern nur ein Nachplappern. Weil gerade alle Welt für Frau Luna schwärmte. Als König oder Kaiser war er nie überzeugend. Er wollte unentwegt majestätisch sein. Ohne Phantasie eben. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, auf seinem Thron pausenlos zu futtern, wie ich es einmal in einem Weihnachtsmärchen gemacht habe. So etwas fiel ihm nicht ein.
    Ich habe aus meinem Talent einen Beruf gemacht. Der so absurd ist, als ob ich ihn mir selber ausgedacht hätte. Die Leute ziehen sich einen Smoking an, ein Kleid, über das sie beim Gehen stolpern, und bezahlen Geld dafür, dass man ihnen etwas vormacht. Sind bereit, alles zu glauben. Wenn sie nicht auf Freikarten reingekommen sind.
    Theater ist ja auch nicht das Schwierige. Da ist man nicht allein. Man bekommt eine Bühne und ein Textbuch und einen Regisseur. Ich habe mit Max Reinhardt gearbeitet, und der hätte noch ausdem Fernsprechverzeichnis einen überzeugenden Dialog herausgekitzelt.
    Nein, schwierig ist es, sich selber etwas vorzumachen. Es gleichzeitig zu glauben und doch nicht zu glauben. Genau zu wissen, dass man mit heruntergelassenen Hosen dagestanden hat, und sich doch damit zu trösten, dass die Übeltäter jetzt im Kerker sitzen. Dass es dort Mäuse gibt und Ratten und ganz viele ekelhafte Spinnen. Sich die Sätze einzureden, die man gern gesagt hätte, wenn man sie gesagt hätte. Den Ballettmädchen den Hintern zu tätscheln und

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