Gerron - Lewinsky, C: Gerron
der Listenreiche erklärt. Dass dieser statistikverrückte Dr. Kramm eines seiner geliebten Formulare einfach vergessen konnte, scheint mir ein stärkeres Indiz für das Außergewöhnliche jener Tage als jedes Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche -Geschrei.
In die Liste, die Hintze-Kunze so eifrig schwenkte, als sei sie ein Extrablatt und vermelde mindestens die Einnahme von Paris, sollten wir die Studienrichtung eintragen, für die wir uns entschieden hatten. Eine andere als eine akademische Laufbahn kam für seine Schüler nicht in Frage, das stand für den Listenreichen fest. Gerade hatte er in seiner Ansprache verkündet, dass uns das Vaterland das große Geschenk einer klassischen Erziehung gemacht habe, und dass wir nun Gelegenheit hätten, einen kleinen Teil unserer Dankesschuld im Dienste eben dieses Vaterlands abzutragen. Hinterher würden wir dann, im Kampf gestählt, die Schanzen der Wissenschaft so siegreich erstürmen wie die preußischen Helden jene von Düppel.
Ich trug damals nicht Schauspieler ein. An die Schauspielerei als Beruf habe ich überhaupt nicht gedacht. Wer in seiner Freizeit Geige spielt oder zum Eislaufen geht, kommt auch nicht auf den Gedanken, daraus gleich einen Beruf zu machen.
Ich schrieb: Medizin . Ein Jahr vorher hätte es noch Jurisprudenz geheißen. Das studierten damals alle Söhne jüdischer Konfektionäre. So, wie ich mir den Anwaltsberuf vorstellte, hätte er mir auch ganz gut gefallen. Die Geschworenen mit einer dramatischen Ansprache von der Unschuld eines Klienten überzeugen, das war gar nicht so weit entfernt von den Spielereien, die ich mit Kalle trieb.
Er war der einzige, der die Liste nicht seriös ausfüllte. All die Jahre war er sich sicher gewesen, dass er das Abitur nicht schaffen würde, und hatte darum auch keine Berufspläne geschmiedet. Er beantwortete die Frage nach seinem Studienfach ganz einfach mit Leben . Wie bei so vielen meiner Mitschüler wurde auch bei ihm nichts aus seinem Plan.
Unser Klassenprimus, der wie alle Primusse – er hätte «Primi» gesagt – Lehrer werden wollte, am liebsten für Latein, schrieb Philologie hin . Das hat er dann nie studiert. Er war vier Jahre an der Front, wurde gegen alle Wahrscheinlichkeit nicht ein einziges Mal verwundet und starb 1918 an der Ruhr.
Ich schrieb: Medizin .
Das kam so: Als ich in der Unterprima war, wurde Großpapa krank. Ganz plötzlich, und ich konnte es nicht glauben. Natürlich, er war immer alt gewesen, wie Großväter das eben sind, aber gleichzeitig doch auch unsterblich. Ich wusste damals noch nicht, dass auch Menschen, die uns wichtig sind, eines Tages einfach nicht mehr da sein können.
Jetzt lag er da in seinem Bett, ausgetrocknet und mit immer weniger Körper unter der dünnen Haut. Dr. Rosenblum, statt ihn zu heilen, wiegte bedenklich den Kopf und versuchte auf Lateinisch zu erklären, was er auf Deutsch nicht verstand. «Die ärztliche Kunst hat ihre Grenzen», sagte er. «Carcinoma bronchialis. Incurabilis.»
Großpapa machte sich nichts vor und behielt bis zum Schluss seinen Humor. Als Papa einmal allzu herzhaft in Optimismus machteund viel zu unehrlich laut behauptete: «Das wird schon wieder!», ergänzte er den Satz mit seiner neuen Flüsterstimme: «Du meinst: Das wird schon wieder … eine Beerdigung geben.»
Krankheiten machten meinen Vater wütend. Weil dann deutlich wurde, dass er in Krisen völlig hilflos war.
Einmal, als ich bei meinem schon sehr kranken Großvater saß, bat der mich, eine Zigarre anzuzünden. «Ich vertrage sie nicht mehr», sagte er, «aber den Geruch mag ich immer noch. Und ich freue mich schon so lang darauf, dir das Zigarrenrauchen beizubringen.»
Ich tat ihm den Gefallen, so eifrig und gründlich, dass ich das ganze Klo vollkotzte. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Großvater habe lachen hören.
Am Schluss schafften sie es nicht mehr, seine Schmerzen zu lindern.
Damals beschloss ich, Arzt zu werden. Einer, der alle seine Patienten heilt. Da kam wieder meine Phantasie ins Spiel.
Mein Großvater erklärte die Welt mit Geschichten. Lehrreichen, komischen und grusligen.
Als ich in kindlichem Ungeschick mal wieder hingefallen war und mich tränenüberströmt von ihm trösten lassen wollte, ließ er mich auf seine Knie klettern und summte leise das Lied, mit dem er mich schon als Dreijährigen immer hatte beruhigen können: «Wir fahren mit der Eisenbahn, Tschu-tschu-Eisenbahn, wir fahren mit der Eisenbahn, wer
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