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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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war ihn mit meinen Eltern schon ein paar Mal gegangen. Die Leipziger zwei Querstraßen weiter, und dann links in die Jerusalemer. Den Namen hatte ich mir gemerkt, weil Papa an dieser Kreuzung immer denselben Satz sagte: «Alle Wege führen nach Jerusalem.» Als Kind verstand ich nicht, dass er damit auf die vielen Judskis anspielte, die dort ihre Geschäfte hatten, aber ich wusste, dass es ein Witz sein musste, denn Mama, die eingespielte Partnerin, lachte jedes Mal neu über die schwache Pointe. Ach, dieses niedliche Pensionstochter-Lachen mit dem schamhaft abgewendeten Gesicht und der Hand vor dem Mund!
    Vom Hausvogteiplatz bis zum Werderschen Markt war mir der Weg weniger klar. Davon ließ ich mich nicht abhalten. Mit einem Ziel vor Augen habe ich immer dazu geneigt, meine Fähigkeiten zu überschätzen. Vor meinem allerersten Auftritt im Künstler-Café sagte die resolute Resi Langer zu mir: «Keine Angst, Gerson, Größenwahn ist die halbe Miete.»
    Während Papa im Büro beschäftigt war, unterhielt sich Mama mit dem Firmenfaktotum und Lagerverwalter Grämlich, einem militärisch zackigen Mann, der die verblüffende Fähigkeit besaß, sich Nadeln in den Arm zu stecken, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bewunderte ihn sehr dafür und kann mich noch an meine Enttäuschung erinnern, als ich erfuhr, dass der Arm nur eine Prothese war. Das Original hatte er im deutsch-französischen Krieg verloren.
    Ich war also ganz allein im Lager und spielte dort Verstecken. Zumindest glaubten das meine Eltern und machten sich deshalb keine Sorgen um mich. Für dieses Spiel hatte ich noch nie einen Partner gebraucht. Jemand, der tatsächlich nach mir suchte und mich womöglich sogar fand, hätte mich nur gestört. In meiner Phantasie konnte ich mir die gefährlichsten Verfolger ausdenken und gleichzeitig ganz sicher sein, von ihnen nicht entdeckt zu werden.
    Als meine Eltern aufbrechen wollten und mich nicht gleich fanden, dachten sie zuerst, ich hätte mich besonders gut versteckt. Ich kann meinen ungeduldigen Vater richtig hören, wie er ruft: «So, Kurt, es reicht jetzt! Hör auf mit dem Quatsch.»
    Aber ich war nicht mehr da. Ich war unterwegs zum Bazar des Modes.
    Bis zum Hausvogteiplatz schaffte ich es ohne Probleme. Aber dort, wo mich der Brunnen in der Mitte daran hinderte, geradeaus weiterzugehen, kam ich vom richtigen Weg ab. Schon bald waren mir die Häuser und Geschäfte überhaupt nicht mehr vertraut. Es wäre vernünftig gewesen, jemanden um Hilfe zu bitten. Meinen Text konnte ich ja: «Ich heiße Kurt Gerson, Klopstockstraße 19.» Aber ich war an jenem Tag nicht vernünftig. Und bin es mein ganzes Leben lang auch nie geworden.
    Ich ging weiter und weiter, wohl immer wieder durch dieselben Straßen. Lange Zeit blieb ich zuversichtlich, hinter der nächsten oder übernächsten Ecke mein Ziel doch noch zu finden. Aber selbst als diese Zuversicht immer mehr schwand, war ich nicht bereit aufzugeben. Ich war es gewohnt, mir Drehbücher auszudenken, in denen ich selber die Hauptrolle spielte, und konnte mir nicht vorstellen, ausgerechnet diese Geschichte würde kein Happy End haben.
    Irgendwann landete ich auf dem Schlossplatz, zwischen dem kaiserlichen Wohnsitz auf der einen und dem Marstall auf der andern Seite. Vor den Wachhäuschen, die den Eingang zum Schloss flankierten, standen unbeweglich zwei Soldaten in blauen Uniformjacken und goldverzierten Pickelhauben. Ein paar Schritte weiter zwei breitbeinige Gendarmen, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Es war gar nicht so eindeutig, wer da wen bewachte.
    Da hätte ich nun meine Gendarmen gehabt, von denen man mir eingetrichtert hatte, man könne sie jederzeit um Hilfe bitten. Aber den Zugang zu ihnen versperrten schwere Eisenketten, und ich wagte nicht, die zu übersteigen. Auf einen der Poller, an denen sie befestigt waren, setzte ich mich und gab mich endlich meiner Verzweiflung hin. Ich weiß nicht, was ich mehr beweinte: die Tatsache, dass ich mich unrettbar verlaufen hatte, oder den Verlust der Schokolade, die ich nun nie bekommen würde.
    Die Frau, die mich ansprach, ist in meiner Erinnerung eine Prinzessin. Obwohl sie natürlich eine ganz gewöhnliche Passantin war. Nur eine Prinzessin konnte auf meine schluchzend gestammelteErklärung – Gerson, Bazar, Schokolade – nicht als erstes dafür sorgen, dass ich meine Eltern wieder fand, sondern zunächst mal in ihre Handtasche greifen und eine Schachtel mit einer Köstlichkeit hervorholen, wie ich sie noch nie

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