Gerron - Lewinsky, C: Gerron
immer noch die Schreibmaschinen klapperten. Bis man den Leuten die langen Tische vor der Nase wegräumte. Die Kästen mit den Karteikarten irgendwo verstaute. Die Wartenden auf den nächsten Tag vertröstete. Tut uns leid, aber die Stühle für die Zuschauer sind jetzt wichtiger. Die Vorstellung hat Vorrang. Sie muss pünktlich beginnen. In der Sekunde, wo sich Gemmeker hinsetzt, muss der Vorhang aufgehen.
Der Vorhang. Echter Samt. Hier wird an nichts gespart.
Auch Vorhangzieher ist ein Posten, der vor Deportation schützt.
Die Bühne nicht einfach aus Podesten zusammengestückelt. Aufwendig konstruiert. Max Ehrlich, der dort den Theaterdirektor macht – machte –, hat mir ganz stolz die Konstruktion erklärt. Ein Schwingboden, wie ihn Tänzer schätzen. Obwohl die Westerbork-Girls, die dort die Beine schwingen, keine Profis sind. Aber hübsche Mädels. Die Röcke so kurz, dass einen kein falscher Schritt stört.
Max hat mich auf eine Stelle aufmerksam gemacht, rechts vorne auf dem Bühnenboden. «Hier muss man aufpassen», hat er gesagt, «sonst kommt man ins Stolpern.» Da war ein Loch in einem der Bretter, in dem man sich leicht mit der Fußspitze verfangen konnte. «Sieht aus wie ein Schlüsselloch», habe ich gesagt. «Schlaues Kerlchen», hat Max geantwortet. «Genau das ist es.»
Als Material für die Bühne haben sie Holz aus einer zerstörten Synagoge verwendet. Auch die Tür des Torah-Schreins.
Bretter, die die Welt bedeuten.
Max war so stolz auf sein Theater. Er erinnerte mich an den Aufricht, damals bei der Dreigroschenoper . Der hätte auch am liebstenauf der Unterbühne übernachtet, nur weil das jetzt alles ihm gehörte. Nur dass es beim Aufricht der Anfang einer Karriere war und bei Max …
Als sie ihn nach Theresienstadt geschickt haben, ist er zu mir gekommen. Die Körperhaltung eines Bettlers. Ein Wrack. Ein geprügelter Hund. Hat mich gefragt, ob er nicht bitte, bitte, bei mir im Karussell auftreten könnte. «Ich kann immer noch sehr lustig sein», hat er gesagt. Und angefangen zu weinen. Altmännertränen. Er ist nur fünf Jahre älter als ich.
Es ist alles so traurig.
In Westerbork war er jemand. Chef der Lagerbühne. Intendant. Hat mir ganz stolz die Fortschritte beschrieben, die sie seit ihrem ersten Programm gemacht hatten. Von einem verstimmten Klavier zu zwei erstklassigen Konzertflügeln. Angeliefert von der Spedition Puls. Sie konnten kriegen, was sie wollten. Wenn sie bei den Lagerwerkstätten Bühnenbilder oder Kostüme bestellten, blieben die anderen Aufträge liegen. Was man nicht selber herstellen konnte, wurde in Amsterdam besorgt. «Kommandant Ludwig macht’s möglich», sagte Max. Ich habe nicht gleich verstanden, was er damit meinte. Gemmeker heißt Konrad. Aber die Leute von der Lagerbühne nannten ihn insgeheim Ludwig. Nach dem verrückten bayerischen König, dem für seine privaten Theatervorstellungen auch nichts zu teuer war. Es hieß, Gemmeker kenne diesen Übernamen und sei stolz darauf. Er denkt wohl nur an den König und nicht an die Verrücktheit.
Bühne, Dekoration, Beleuchtung, alles wie in einem richtigen Theater. Es gab sogar Programmzettel, auf dem Hektographen vervielfältigt. Nur der Vermerk Es wird gebeten, die Programme nach Schluss der Vorstellung wieder abzugeben erinnerte daran, dass man sich nicht in einem Berliner Kabarett befand.
Es ging überhaupt sehr berlinisch zu. Zwei Publikumslieblinge, Johnny und Jones, kamen nicht ins feste Ensemble rein, weil sie ihre Lieder nur auf Holländisch sangen. Das mochte Gemmeker nicht.
«Wir sind jedes Mal ausverkauft», sagte Max und wollte tatsächlich dafür bewundert werden. Glich auch in diesen Punkt dem Aufricht,der seine Kassenrapporte so aufdringlich herumzeigte wie ein junger Vater die Photographien seines Sprösslings. «Wir könnten viel mehr Vorstellungen spielen», sagte er.
Aber das wollte Gemmeker nicht. Immer nur dienstags, hatte er angeordnet. Immer nur nach Abfahrt des Deportationszugs. Wenn das Lager nach all der Angst und Verzweiflung, nach all dem Losreißen und Abschiednehmen, Ablenkung brauchte. Revue als Beruhigungsmittel. Gelächter und Applaus, um den Horror vergessen zu machen. So wie man ein Grab zuschaufelt. Um die Toten nicht mehr sehen zu müssen.
Wahrscheinlich hat Gemmeker gar nicht so weit gedacht. Wahrscheinlich waren ihm die Lagerinsassen egal, und er interessierte sich nur für sich selber. Wenn man seine Arbeit mal wieder für eine Woche gemacht hat, wird er sich
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