Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Waggons mit allem auf, was da ist. Mit Krüppeln. Alten Leuten. Mit Kindern. Der SS kommt es nicht darauf an. Für die Statistik ist Judski gleich Judski. Die Zahlen müssen stimmen. Es kann jeden treffen. Und weil das so ist, steigt an jedem Wochenende das Fieber. Bricht die Krankheit neu aus. Die Unsicherheit. Die Angst.
Das erste Symptom sind immer die Gerüchte. Die Märchen-Agentur glaubt jede Woche ganz genau zu wissen, wen es diesmal treffen wird. «Den hat es erwischt», wird geflüstert. «Und die auch.» Jeder will seine Informationen aus sicherer Quelle haben. Direkt aus dem Dienstbereich 1. Will die Namen von Kurt Schlesinger persönlich erfahren haben, dem allmächtigen Dienstleiter, der es übernommen hat, sich für die SS die Hände schmutzig zu machen. Er entscheidet darüber, wer dableiben darf und wer mitfahren muss. So wie hier der Eppstein.
«Wer leben wird und wer sterben», betet der falsche Rabbi. «Wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Hunger und wer durch Durst, wer durch Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe.»
Großpapa hatte es einfacher formuliert. «Wir fahren mit der Eisenbahn, wer fährt mit?»
Jeder versucht, sich mit Schlesinger gut zu stellen. Auf eine der Listen zu kommen, die vor Deportation schützen. Schützen sollten. Es gibt immer wieder neue Listen, und alle, alle sind sie geplatzt. Die Diamantenschleifer-Liste. Die Portugiesen-Liste der sephardischen Juden. Die Barneveld-Liste der Reichen und Prominenten, auf der man sich mit viel Geld einen Platz kaufen konnte. Die Liste der Rüstungsarbeiter, die alle für den Endsieg unentbehrlich waren und auf die man dann doch verzichtet hat. Die Liste der Leute in Mischehen. Die fühlten sich am sichersten. Bis aus der Fünten sie eines Tages vor die Wahl stellte: Sterilisation oder Deportation. Ihnen freundlicherweise eine halbe Stunde Zeit gab, um sich zu entscheiden. Die Liste der Pioniere mit dem Palästina-Zertifikat, die nicht deportiert werden durften, weil man sie gegen in Palästina internierte Deutsche austauschen wollte. Als dann auch diese Liste platzte, ging in Westerbork das Wort um, die Sache mit dem Austausch sei nur ein Austauschwitz gewesen. Ha ha ha.
Ich stand sogar auf zwei Listen. Die eine, die der dekorierten Frontkämpfer, hat mich immerhin vor Auschwitz bewahrt. Das Eiserne Kreuz ist der Schlüssel zum Paradies Theresienstadt. Dieandere war Gemmekers private Liste. Die Leute, die ihn im Kabarett amüsieren sollten. Ohne meine Krankheit hätte sie mir wohl noch länger eine Pritsche in Westerbork gesichert. Aber ich habe meinen Auftritt verpasst, und damit war ich bei Gemmeker unten durch.
Egal. Unterdessen sind die Kollegen alle auch in Theresienstadt.
Woche für Woche dasselbe. Das Wissen, dass jede Sicherheit nur Illusion war. Dass jedes Rettungsboot früher oder später leck schlug. Jede Woche die Angst. Das war das Schlimmste.
Bisher.
Im Krieg haben wir uns in die Erdlöcher gekrallt, von denen wir uns Schutz versprachen. Im Lager geht man hinter einer Funktion in Deckung. Versteckt sich hinter der eigenen Nützlichkeit. Jeder Parch ein Monarch , sagt man hier. Wer Deportationslisten ausfüllt, steht selber nicht drauf. Wer andere für entbehrlich erklärt, ist selber unentbehrlich. Wer für die SS einen Film dreht, geht nicht auf Transport.
Ich habe immer noch nichts Neues gehört. Weder von Rahm noch von Eppstein.
Westerbork ist ursprünglich – noch vor dem Krieg – ein Internierungslager für Emigranten aus Deutschland gewesen. Bis nach Holland hatten sie es geschafft, aber die Holländer wollten sie nicht wirklich haben. Also stellte man ihnen ein paar Gebäude in den Sand und schickte die Rechnung dafür an die jüdischen Gemeinden. Es gibt Leute, die dort schon seit dem ersten Tag festsitzen. Die Alten nennt man sie und beneidet sie um die Privilegien, die sie sich im Lauf der Jahre verschafft haben. Sie wohnen immer noch in den Häuschen, mit denen das Lager einmal angefangen hat, leben dort nur zu fünft oder zu sechst in einem Zimmer, während Neuankömmlinge froh sein müssen, wenn sie in einer der großen Baracken Platz finden. Mit ein paar hundert anderen. Selbst das gelingt nicht jedem. Nach der Auflösung des Joodsche Raad kamen so viele Menschen auf einmal in Westerbork an, dass man in der Registrierbarackemit der Arbeit nicht nachkam. Damals mussten eine Menge Leute im Freien übernachten. Nur ein
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