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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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paar Tage. Am Dienstag fuhr wieder der Zug nach Auschwitz.
    Die Alten sind alles Deutsche. Was den holländischen Gefangenen das Gefühl gibt, sie würden auch noch im Lager von Moffen regiert. Man mag sich gegenseitig nicht. Es verbindet einen nichts, außer dass man mit demselben Zug entgleist ist. Ein gemeinsames Schicksal macht nicht automatisch solidarisch. Nur die Kinder verstehen sich gut und spielen fröhlich Transport . Zwarte Katte, weiße Katze, heeft de Maus schon in zijn Tatze. Ihr anderes Lieblingsspiel heißt Fliegende Kolonne . Zwei sind die Kranken und werden in Schubkarren gepackt. Dann geht das Wettrennen los, immer den Boulevard des Misères rauf und runter. Nur am Dienstag darf nicht Fliegende Kolonne gespielt werden. Dann ist das Original unterwegs. Sie haben diese speziellen Karren mit großen Rädern, auf denen sie Bettlägerige samt Gepäck zum Deportationszug transportieren.
    Die beigen Overalls mit den FK -Armbändern sind begehrt. Wer fremde Koffer schleppt, muss nicht die eigenen zum Zug bringen. Auch in der Fliegenden Kolonne sind die Arbeitsplätze alle fest in deutscher Hand. Wie der ganze jüdische Ordnungsdienst. Sein Kommandant stolziert schon gern mal in blanken Stiefeln durchs Lager und gibt sich germanischer als die ganze SS. Man kann die Juden aus Deutschland vertreiben, aber nicht Deutschland aus den Juden.
    Ich mache niemandem einen Vorwurf. Krieg ist wie Kino: Die besten Plätze sind hinten. Sie haben einen Granattrichter gefunden, und jetzt ducken sie sich eben hinein. Ziehen die Köpfe ein, wenn das Trommelfeuer losgeht. Wir haben uns damals auch nicht geschämt, wenn in unserem Unterstand für andere kein Platz mehr war. Es steht auch schon so in der Bibel, sagt der falsche Rabbi. Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?
    Niemand. Nicht in Westerbork.
    Nicht in Theresienstadt.
    Bei den Leuten von der Lagerbühne war das nicht anders. Ihr Splitterschutz war das Scheinwerferlicht. An jedem Dienstagabendtraten sie auf. Nicht weil es ihnen solchen Spaß machte, die SS mit heiteren Scherzen zum Lachen zu bringen. Aber solang sich Gemmeker in der ersten Reihe gut amüsierte, solang waren sie sicher. Von den Mitwirkenden der Revuen war bisher noch nicht ein einziger auf Osttransport gegangen. Also sangen sie fröhliche Lieder und inszenierten lustige Blackouts.
    Ha ha ha.
    «Spielt um euer Leben», hat der Fehling immer vor Premieren gesagt. In Westerbork taten sie es.
    Nein, das stimmt so nicht. Nicht ganz. Da war noch etwas. Die Freude daran, etwas verursachen zu können. «Jemand muss lachen», sagt man. Muss. Wenn Max Ehrlich eine Pointe abschoss, musste auch die SS. Musste auch Gemmeker. Solang sie noch dieses letzte Zipfelchen Macht besaßen, waren sie nicht einfach hilflose Gefangene. Waren sie immer noch sie selber. Schauspieler. Musiker. Tänzer. So wie ich immer noch Regisseur bin. Solang ich diesen Film drehe.
    Wenn es den Film noch gibt.
    Gleichzeitig war die Lagerbühne ihr Rettungsboot. Jeder, der da auch noch hineinwollte, den knappen Platz mit ihnen teilen, jeder, der drohte, einen von ihnen zu verdrängen, war eine Gefahr. Ein Konkurrent. Das war nicht mehr Amsterdam, wo wir einfach Kollegen gewesen waren. Das war nicht mehr Berlin.
    Ah, Berlin! So weit weg. Eine andere Zeit. Ein anderer Planet.
    Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie mir mit den Rudern auf die Finger geschlagen. Bis ich losgelassen hätte. Von den Wellen weggetrieben worden wäre. Am Horizont verschwunden. «Schade», hätten sie gesagt, «jetzt haben ihn die Haie doch gefressen. Aber was hätten wir tun sollen? Jeder ist sich selbst der Nächste.»
    Wenn ich nicht für mich bin, wer dann?
    Aber sie konnten nicht einfach so tun, als ob es mich nicht gäbe. Gemmeker wollte mich auf der Bühne sehen. Sie hatten keine Wahl.
    «Wir werden uns etwas für dich einfallen lassen», sagten sie. «Schau dir erst mal unser Programm an.»
     
    Immer am Dienstagnachmittag wird in Westerbork die Bühne aufgebaut. Immer noch? Ich weiß es nicht. Die ganzen Stars sind jetzt hier. Zu meiner Zeit war es so: Es musste schnell gehen, denn eigentlich hatte die große Baracke eine ganz andere Funktion. Hier wurden die Neuzugänge registriert. An Vorstellungstagen konnte es vorkommen, dass das Theater schon den Raum übernahm, während immer noch eine Schlange von frisch aus Amsterdam Angekommenen auf Lagerausweise und Lebensmittelkarten wartete. Dass das Orchester schon die Instrumente stimmte, während

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