Gerron - Lewinsky, C: Gerron
fünfmal Platz gehabt hätten. Man gab seine Angst nicht zu. Machte sogar Konversation. Tauschte mit dem Pritschennachbarn die neusten Gerüchte über die Kriegslage aus. Ließ sich von ihm zum zehnten Mal erzählen, was für ein wichtiger Mann er vor dem Einmarsch der Deutschen gewesen war. Nur über das, was einen wirklich beschäftigte, redete man nicht.
Dazu waren wir zu zivilisiert.
Der Mann von der Dienstgruppe 1 brüllte nicht herum, wenn er die Transportliste verlas. Nicht wie der von Neusser, als er mich aus meinem eigenen Atelier rauswerfen durfte. Im Gegenteil. Es war ihm peinlich, dass er schlechte Nachrichten zu verkünden hatte. Er sprach leise. Den eigenen Namen versteht man immer.
Gerson, Kurt, genannt Gerron.
Der Mann im Bett über mir war auch betroffen. Er weinte und wollte sich gleichzeitig dafür entschuldigen. «Tut mir lei …», setzte er immer wieder an. Schaffte den Schlusskonsonanten nicht, weil ihn das Schluchzen so schüttelte. «Tut mir lei …» Ich höre ihn noch.
Es gab auch die anderen, die Gierigen. Die Aasgeier. Auch sie wahrten die Form. «Verzeihen Sie bitte», sagten sie ganz höflich, «wissen Sie schon, ob Sie Ihr Rasiermesser mitnehmen wollen? Meines ist überhaupt nicht mehr scharf zu kriegen.» Und man hat nicht geantwortet: «Natürlich brauche ich mein Rasiermesser noch. Womit soll ich mir sonst die Pulsadern aufschneiden?»
So was tut man nicht.
Es gibt diese Geschichte von dem Aristokraten, der bei strömendemRegen auf einem Karren zur Guillotine gefahren wird. «Es tut mir aufrichtig leid, Monsieur», sagt er zum Henker, «dass Sie bei diesem schlechten Wetter auch wieder zurückfahren müssen.» So haben wir uns benommen.
Olga wartete vor der Registrierbaracke auf mich. Stand da im Lichtkegel der einen Laterne und sah aus wie inszeniert. Wir hatten den Treffpunkt nicht verabredet, hatten nichts vorausgeplant. Dazu waren wir viel zu abergläubisch gewesen. Aber wenn man so lang zusammen ist wie wir beide, muss man nicht alles aussprechen.
«Du auch?», war das erste, was Olga sagte. Und als ich nickte: «Dann bin ich beruhigt.»
«Beruhigt», sagte sie. Weil es doch manchmal vorkam, dass Ehepaare getrennt wurden.
Wenn sie einen aufriefen, wusste man nur, dass man an der Reihe war. Man erfuhr nicht, wo die Fahrt hinging. Aber ich stand auf der Liste der Frontkämpfer. Ich besaß das Eiserne Kreuz. Ich war prominent.
«Es wird Theresienstadt sein», sagte ich. «Das ist nicht so schlimm.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher.» Obwohl ich das natürlich nicht war. So etwas wie Sicherheit gab es schon lang nicht mehr. Aber ich wollte Olga beruhigen. Versuchte sogar einen Scherz zu machen. «Der Rosen und der Ehrlich müssen noch hierbleiben», sagte ich. «Aber mich haben sie mit einer Solorolle besetzt.» Ich glaube, dass meine Stimme dabei nicht flatterte. Schauspieler lügen gut.
«Solang wir nur zusammen sind», sagte Olga.
«Wir werden immer zusammen sein», sagte ich.
Klischees, natürlich. Aber der Joe May hat recht: Sie sind wirkungsvoll.
Es war kein langes Gespräch. Dann haben wir uns getrennt, um unsere Sachen zu packen. Jeder in seiner Baracke.
Olga blieb noch einmal stehen. «Der Krieg kann nicht mehr lang dauern», sagte sie. Der große Zauberspruch von Westerbork. Und von Theresienstadt. Die Coué-Methode für Lagerinsassen. «DerKrieg kann nicht mehr lang dauern. Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser.» Oder, wie Papa dasselbe formuliert hat: «Das wird schon wieder.»
Und dann ist Großpapa gestorben.
Es kam selten vor, dass sie jemanden mit Gewalt zum Zug schleppen mussten. Die Drohung, dass sie es, wenn nötig, tun würden, reichte völlig aus. Die SS-Leute ließen die Fliegenden Kolonnen und den Ordnungsdienst ihre Arbeit tun. Spazierten den Boulevard auf und ab, als ob sie nur ganz zufällig hier wären. Man erzählt von Furtwängler, dass er manchmal mit dem Dirigieren einfach aufhört und den Philharmonikern nur noch zuhört. Weil er bei ihnen keine falschen Töne zu befürchten hat. So auch Gemmeker. Sein eingespieltes Deportationsorchester spielte fehlerlos.
Wir spielten alle mit.
Einer von Mamas Bad Dürkheimer Lehrsätzen lautete: «Der wohlerzogene Mensch geht nie pünktlich zu einem gesellschaftlichen Anlass, sondern erscheint immer mit kleiner Verspätung. Alles andere wäre unhöflich.» Aber was ist die korrekte Zeit, um zum eigenen Osttransport zu gehen?
Wir waren alle pünktlich da.
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