Gerron - Lewinsky, C: Gerron
eigentlich Schnee hätte werden wollen, aber den Versuch aufgegeben hätte. Wozu sich anstrengen? Man endete ja doch im Matsch von Westerbork.
Meine Beine wollten nicht mehr. Nirgends eine Sitzgelegenheit. Ich hockte auf dem nassen Boden und war dankbar, dass die Regentropfen auf meinem Gesicht die Tränen kaschierten.
Ich erinnere mich daran wie an eine Photographie.
Bei einem Film ist die Auswahl der Standphotos immer eine große Sache. Wenn sie später vor den Kinos aushängen, müssen sie die ganze Geschichte zusammenfassen. Es gibt dann immer lange Diskussionen, ob dieses Bild wichtiger ist oder jenes.
Das Leben trifft die Auswahl zufällig. Wir haben keinen Einfluss darauf, was sich in unser Hirn einbrennt und was nicht. Unsere Erinnerung hat keine Werbeabteilung, die sich um solche Sachen kümmert.
Es hat nie einen wichtigeren Moment in meinem Leben gegeben als meine erste Begegnung mit Olga, aber ich weiß nicht mehr, wie sie damals ausgesehen hat. Der Standphotograph hat gepennt. Aber den Scheißfußboden in Thalmanns Hamburger Praxis, das Unwichtigste vom Unwichtigen, den hat er aufgenommen. Den könnte ich heute noch beschreiben. Der Pullover von dem großen Jungen in Kriescht, der ist noch da. Aber wer neben mir über den Grabenrand kletterte, an dem Tag, als mich der Granatsplitter traf, das ist verloren. Der Kopf spart sich seine Großaufnahmen gern für Nebensächlichkeiten auf. Das Pissoir im Künstlercafé. Von Neussers idiotische Stiefel. Das Segelschiff auf dem Zifferblatt im Schiller . Und eben jener Moment, als ich am Boulevard des Misères im Regen auf dem Boden sitze und zum ersten Mal nicht mehr nur theoretisch weiß, dass auch mein Leben nicht unendlich ist.
Nicht unendlich . Welch feinfühlige Formulierung. Selbst mit sich allein kann man das Lügen nicht lassen.
Natürlich – man muss nicht Medizin studiert haben, um das zu verstehen –, natürlich hatte diese Todesahnung auch etwas mitmeinem geschwächten Zustand zu tun. Mit der Tatsache, dass mein Körper weniger geworden war. Die Krankheit war nicht nur eine heftige Diätkur gewesen, ich hatte mir bei meinen endlosen Latrinensitzungen auch ein Stück von mir selber weggeschissen. Unwiederbringlich. Ein Stück von meinem inneren Panzer. Hinter dem sich immer noch das schmächtige, ungeschickte Kerlchen versteckte, das ich einmal gewesen war.
Das ich immer noch bin.
Das so furchtbare Angst vor dem Tod hat.
Nicht vor dem Sterben. Das hat heute keinen Schrecken mehr für mich. Ich fürchte mich nicht vor dem Moment, wo man aus dem Leben weggerissen wird. Damals an der Front, ja, da hat uns diese Furcht jeden Tag durchgeschüttelt. Aber das ist vorbei. Heute, seit jenem verregneten Spaziergang der Bahnlinie entlang, habe ich nur Angst vor dem Nicht-mehr-da-Sein. Vor dem Nicht-mehr-Existieren. Vor dem großen Vergessen-Werden.
Sie haben mich nicht vergessen. Beim nächsten Transport haben sie mich auf die Liste gesetzt. Gerson, Kurt, genannt Gerron. Gerson, Olga.
Es ging alles so zivilisiert vor sich. So gesittet. So privat. Man hätte es besser ertragen – nein, nicht besser ertragen: besser verstanden –, wenn man uns aus einer Gefängniszelle geholt hätte. In Handschellen zum Zug geschleift. In Häftlingskleidung. Aber so war es nicht. Westerbork, das war Hamlet bei Jessner: Tragödie im falschen Kostüm. Bei Jessner liefen sie alle im Frack herum, und ob einer König war oder Gespenst, das musste man sich vorstellen. Wir hatten keine Fräcke. Unsere Klamotten waren schäbiger. Aus Amsterdam mitgebracht oder in der Kleiderkammer bezogen. Nun ja, auf der Hose saß ein Flicken aus einem fremden Stoff. Das Revers des Jacketts franste aus. Und die Hemden … «Isabellenfarben», hätte Papa gesagt. Ungebügelt und meistens ungewaschen. Aber sie wahrten den Schein. Während der Wirtschaftskrise haben sich die Arbeitslosen so auf der Straße angeboten. Nichts mehr im Magen,aber immer noch die Krawatte um den Hals. Nehme jede Arbeit an. Unser Text wäre ein anderer gewesen. Nehme jedes Asyl an. Aber da war kein Asyl. Da war nur an jedem Dienstag der Zug.
Man kannte die Regeln für den Montagabend und hielt sie ein. Setzte sich brav in der Baracke auf seine Pritsche und wartete auf die Bekanntgabe der Namen. Ordnete noch einmal seine Sachen. Für die es ja keinen anderen Lagerplatz gab als die eigene Matratze. Wenn Mama nervös war, räumte sie ihren Wäscheschrank neu ein. In dem meine schäbigen Westerborker Besitztümer
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