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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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abgedrückt. Sie haben ihm den Humor ausgetrieben, die Barbaren.
    Humor und Melodie hieß das Programm. Für die Melodie war Willy Rosen zuständig. Aber das funktionierte nicht richtig. Er hatte schon damals nicht mehr die Kraft zur Leichtigkeit. Die Baracke jubelte zwar immer noch, wenn er vor einem Lied die berühmte Ansage machte: Text und Musik von mir! Aber wenn er dann sang, kam es einem vor, als ob er sich selber imitierte. So wie der Max Ehrlich in seiner Schallplattennummer all die bekannten Sänger nachgemacht hatte. Als ob ein zweitrangiger Pianokomiker versuchte, den berühmten Willy Rosen zu kopieren.
    Er kam gegen die Wirklichkeit nicht an. Die Wirklichkeit, dass wir in einer Baracke in einem Auslieferungslager saßen, dass vor ein paar Stunden der Zug nach Auschwitz abgefahren war, dass draußen der Wind heulte und Sand durch alle Ritzen blies. Das alles sollte er uns mit seinen Liedern vergessen machen. Max Ehrlich schaffte dasKunststück. Beim Rosen merkte man, dass er sich die eigene Fröhlichkeit nicht mehr glaubte. Frau Meier tanzt Tango , sang er und Man vergisst seine Sorgen beim Charleston. Aber man vergaß sie nicht. Die Leute klatschten zwar im Takt, aber sie waren nur begeistert, um nicht verzweifelt sein zu müssen.
    Beim letzten Sketch des Abends schloss sich für mich ein Kreis. Eine Schulparodie. Einer der kurzbehosten Schauspieler sagte: «Ich weiß schon, wie man Kinder kriegt», und der andere: «Au Backe, bist du doof! Ich weiß schon, wie man keine kriegt.» Die Pointe war schon damals im Krüppelheim gut angekommen.
    Nur dass ich jetzt zu den Insassen gehörte.
     
    Auch die nächste Lagerrevue hatte wieder so einen unausstehlich gutgelaunten Namen. Bravo! Da Capo! Der Ehrlich und der Rosen hatten mir darin widerwillig ein Lied zugestanden. Ein ganzes Lied. Für einen Star wie mich. Der ein Kassenmagnet gewesen war. Bevor er den Karriereschritt zum Häftling machte. Ein einziges beschissenes Lied.
    Seltsam: Ich kann mich an meinen Ärger von damals noch erinnern, aber ich kann ihn nicht mehr empfinden. Als ob mir meine Emotionen abgestorben wären. Verkümmert. Atrophiert. Nur die Trauer ist noch da. Die Angst. Aber alles, was Kraft braucht, Ärger, Zorn oder Hoffnung, das bringe ich nicht mehr zusammen. Leere Nussschalen. Ich bin sicher, Dr. Springer wüsste eine Erklärung dafür. Vielleicht hat es mit dem Hunger zu tun.
    Ein Lied haben sie mir gnädig bewilligt. Eifersucht . Eine Nummer, die schon in Berlin abgestunken war. Ich als Othello. Mit schwarz angemaltem Gesicht. Ich glaube, sie haben den Titel überhaupt nur ausgesucht, weil ich eine halbe Stunde brauchen würde, um das Gesicht wieder sauber zu kriegen. Damit sie sagen konnten: «Tut uns leid, wir hätten dich ja gern noch mehr ins Programm eingebaut. Aber bis du abgeschminkt bist, ist die Vorstellung zu Ende. Leider, leider.» Im Finale hätte ich gerade noch mitsingen dürfen. Zweite Reihe, der dritte von rechts. Ich. Kurt Gerron.
    Dabei spielten sie im zweiten Teil des Programms das Streichquartett. Ein Schwank, in dem die perfekte Rolle für mich drin gewesen wäre. Aber sie gönnten sie mir nicht.
    «Nimm’s als Kompliment», sagte Olga. «Sie haben Angst, dass du sie an die Wand spielst.»
    Angst kann ich verstehen.
    Seit zwei Tagen hocke ich in diesem Zimmer und warte darauf, dass jemand etwas von mir will. Dass mir jemand etwas sagt. Wenn der Film nicht gedreht wird, denkt es die ganze Zeit in mir, dann braucht mich Rahm nicht mehr. Und wenn er mich nicht braucht …
    Angst kann ich sehr gut verstehen. Sie schlägt mir schon wieder auf den Magen.
    Wie damals.
    Ich habe ihnen den Gefallen getan und bin krank geworden. Die große Scheißerei. Amöbenruhr war die Diagnose. Aber es war Angst.
    In der Krankenstation von Westerbork gab es genügend Ärzte. Die ganzen Judski-Doktoren aus Amsterdam und Den Haag waren im Lager gelandet. Voller Angst, dort nicht bleiben zu können. Die besten Spezialisten. Eine halbe medizinische Fakultät. Traten sich gegenseitig auf die Füße. Jeder versuchte, immer noch unentbehrlicher zu sein als der andere. Weil nur die ganz Unentbehrlichen nicht früher oder später auf Transport gingen. Manchmal standen sie zu viert vor meiner Pritsche. Hatten aber auch nicht mehr zu bieten als lateinische Fachausdrücke und beruhigende Worte. Wenn es denn wirklich eine Amöbiasis gewesen ist, hätte es wirksame Medikamente dagegen gegeben. Nur waren die in Westerbork nicht zu kriegen.

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