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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Immerhin: Mit dem, was sie hatten, konnten sie verhindern, dass man daran verreckte. Nicht wie unser Klassenprimus Hanselmann. Er wird gekennzeichnet werden.
    Die ersten zwei Wochen kam ich von der Bettpfanne überhaupt nicht mehr runter. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich es zum ersten Mal rechtzeitig bis zur Latrine schaffte.
     
    Stolz. Auch so ein Gefühl, das nur noch Erinnerung ist.
    Als fürsorgliche Kollegen brachten mir der Ehrlich und der Rosen den Programmzettel ans Bett. Zeigten mir meinen Namen. Eifersucht … Kurt Gerron . Damit ich wenigstens wusste, dass ich tatsächlich aufgetreten wäre. Wenn ich hätte auftreten können. Berichteten mir von einem großen Erfolg. Gemmeker hatte ihnen eine Flasche Cognac hinter die Bühne schicken lassen. «Echter französischer», sagte Max. Mit einem Gesicht, als ob er Applaus dafür erwarte.
    Dasselbe Gesicht, das ich auch machen würde, wenn Rahm meinen Film lobte. Das dankbare Sklavengesicht.
    Ich habe den Programmzettel nicht aufbewahrt. Beim nächsten Anfall habe ich mir den Arsch damit abgewischt.
    Bei der Premiere war ich also nicht dabei. Nicht bei der zweiten Vorstellung und nicht bei der dritten. Auch nicht an jenem Dienstag, als Hauptsturmführer Brendel zu Besuch in Westerbork war. Der Mann aus Ellecom. Dem man mich zum Geburtstag geschenkt hatte, weil er von mir so begeistert war. Gemmeker ließ anfragen, ob ich nicht zumindest dieses eine Mal auftreten könne. Der Mann, den er mir schickte, stöberte mich auf der Latrine auf. Ich hatte blutige Krämpfe und konnte nur den Kopf schütteln.
    Man soll einen Lagerkommandanten nicht enttäuschen. Schon gar nicht, wenn er Gäste hat, die er beeindrucken will. Wer im falschen Moment scheißen muss, hat verschissen.
    Danach konnte ich mir nicht mehr einreden, dass ich doch noch in die Revue einsteigen würde. Musste mir eingestehen, dass ich dieses Rettungsboot ein für allemal verpasst hatte. Die Arche war abgefahren.
    «Es geht Ihnen besser», sagten die vielen Ärzte irgendwann. «Bald werden wir Sie entlassen können.» In Westerbork war das kein Versprechen, sondern eine Drohung. Aus der Krankenstation entlassen, das hieß auch: transportfähig.
    «Du solltest nicht alles so schwarz sehen», sagte Olga. «Ich mache mir keine Sorgen um uns.» Sie ist eine wunderbare Frau. Aber lügen hat sie nie gelernt.
     
    Als man mich wieder gesundschrieb, war ich es noch lange nicht. Bin es auch nie wieder geworden. Nicht wirklich. Ich musste nur meine Tage nicht mehr auf der Latrine verbringen.
    Zwölf Kilo hatte ich abgenommen. War so schwach auf den Beinen, dass mir der Boulevard des Misères beim ersten Gehversuch endlos lang erschien. Wer denkt sich solche Namen aus? Es war die Hauptstraße des Lagers, sonst nichts. Der Bahnsteig für die Züge nach dem Osten. Misères ja. Aber Boulevard ? Ich musste mich auf Olga stützen und kam mir vor wie ein uralter Mann.
    Heute habe ich noch einmal zwanzig Kilo weniger. Vielleicht dreißig. Ich habe keine Waage, und sie fehlt mir nicht. Ich brauche keine Statistik meines Zerfalls.
    Dem Tag, an dem man mich wieder gesunderklärte, war kalt. Ich habe trotz eines dicken Mantels gefroren. Der Wind blies mir kleine Sandpartikel ins Gesicht. Lauter spitze Nadeln, so kam es mir vor. Sie erinnerten mich an den Fußmarsch, den ich als kleiner Junge mit Papa gemacht hatte. Von Kriescht nach Nesselkappe. Damals hatte ich mir das Unangenehme des Erlebnisses noch mit Phantasien wegspielen können. War ein tapferer Soldat gewesen oder ein unerschrockener Polarforscher. Jetzt ging das nicht mehr. Es waren nicht mehr genügend Träume übrig, in denen ich mich hätte verstecken können.
    In der Luft der Geruch nach verbranntem Holz. Nach Rauch. Von den vielen Öfchen, die in den Baracken vergeblich gegen die Kälte ankämpften. Der Himmel einförmig grau. Nicht als ob da Wolken wären, sondern als ob es die Sonne endgültig aufgegeben hätte, diese Erde noch weiter zu beleuchten. Alle Farben verblasst. In dieser Lichtstimmung hätte man den Film drehen müssen, an dem ich mit dem Lorre so lang herumspintisiert habe: Ein Mann ist gestorben und hat es bloß noch nicht gemerkt. So kam ich mir vor.
    «Du wirst wieder ganz gesund», sagte Olga, und ich dachte: Wozu?
    Meine Gefühle waren mir abgestorben.
    Wir blieben stehen. Ich schmiegte mein Gesicht in ihre Haare und atmete ihren Duft ein.
    Ach, Olga, deine Haare.
    Es begann zu nieseln. Ein schwächlicher, kalter Regen. Als ob er

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