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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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wo es warm ist. Kälte ist nicht gut für seinen Rücken.»
    Hoffentlich hat er im Viehwaggon einen Platz gefunden, wo er sich anlehnen kann.
    «Ihre Hose ist zerrissen.» Es war das erste Mal, dass Herr Turkavka etwas Persönliches zu mir sagte. Ich beneide ihn. Latrinenwächter ist ein sicherer Beruf. Sicherer als Filmregisseur.
    Wie soll ich Olga erklären, dass alles aus ist?
     
    Sie ist noch nicht zurück. Aber auf dem Absatz über der Treppe treffe ich Dr. Springer. Er sitzt unter dem Dachfensterchen auf dem Boden, ein riesiges Stück Stoff vor dem Gesicht. Ein Kissenüberzug aus der Krankenstation. «Ich bin erkältet», sagt er und hustet in sein Tuch. «Nichts Schlimmes, aber bei der Arbeit würde ich die Leute nur anstecken. Keine Angst, bis Sie zu uns zum Drehen kommen, bin ich wieder auf dem Posten. Meine Chance zum Filmruhm werde ich mir nicht entgehen lassen. Weiß man unterdessen schon, wann es sein wird?»
    Ich erzähle ihm alles. Dass das Projekt wahrscheinlich gestrichen ist. Dass ich Angst davor habe, überflüssig zu werden. Nicht mehr geschützt zu sein. «Machen Sie sich keine Sorgen», sagt er. «Rein statistisch stehen unsere Chancen gut. Ihre und meine. Von den A-Prominenten ist noch kein einziger auf Transport gegangen.»
    «Und wenn doch?»
    Er schnäuzt sich erst mal, säubert seine Nase so sorgfältig und gründlich, wie er das letzte Restchen Wundbrand aus einer Verletzungentfernt haben würde. Dann sagt er: «Ich persönlich – wenn ich zum Transport aufgerufen werde, bringe ich mich um.» Sagt es ganz sachlich. Wie man im Konsilium nach gründlicher Überlegung eine Therapiemöglichkeit vorschlägt. Ich würde in diesem Fall zum Suizid raten, Herr Kollege.
    Wir diskutieren miteinander die verschiedenen Methoden. Mediziner unter sich. Sind uns darüber einig, dass die alten Römer die angenehmste Variante gefunden hatten. Sich in eine körperwarme Badewanne legen und vom Medikus die Pulsadern öffnen lassen. Beim langsamen Verbluten noch ein bisschen plaudern. Sich in aller Ruhe von seinen Freunden verabschieden. Irgendwann einschlafen. Nur eben: In Theresienstadt gibt es keine Badewannen. Nicht für uns. Selbst für die Gemeinschaftsduschen sind die Wartezeiten endlos.
    Dr. Springer muss viel über das Thema nachgedacht haben. Er hält mir einen regelrechten Vortrag. «Männer hängen sich vorzugsweise auf», sagt er. «In fast fünfzig Prozent aller Fälle. Das ist empirisch erwiesen. Dabei ist die Technik überhaupt nicht empfehlenswert. Eine höchst unangenehme Todesart.» Er klingt wie jemand, der in einem angesagten Speiselokal mit der Küche nicht zufrieden ist. «Die Leute haben alle diese Filmszenen gesehen, wo der Scharfrichter den Knoten festzieht, unter den Füßen des Delinquenten geht eine Klappe auf, und schon baumelt er da und ist tot. Aber so ein Genickbruch ist nicht leicht hinzukriegen. In Handarbeit schafft man das nicht. Wenn sich die Schlinge nur festzieht und man erstickt – unangenehm. Äußerst unangenehm. Ganz abgesehen von der Gefahr, dass man noch ziemlich lang wiederbelebt werden kann. Oft mit bleibenden Schäden. Sauerstoffmangel im Gehirn.»
    Andere Leute tauschen Rezepte aus.
    Wenn ich es recht überlege: wir auch.
    «Wenn die Menschen nur ein bisschen was von Anatomie verstünden», sagt Dr. Springer, «würden sie beim Aufhängen den Knoten vorne machen und nicht hinten. Dann drückt die Schlinge nicht den Kehlkopf ab, sondern die Nackenarterien, und man verliert ganz allmählich das Bewusstsein.»
    «Oder man erschießt sich gleich», sage ich.
    Er schüttelt den Kopf. «Auch eine sehr unsichere Sache. Wenn Ihre Hand zittert und Sie nicht richtig treffen, sind Sie hinterher bloß verkrüppelt. Außerdem: Wo wollen Sie in Theresienstadt eine Waffe hernehmen?»
    «Und Schlaftabletten?»
    «Veronal?» Er hustet und schnäuzt sich ausgiebig. «Wird total überschätzt. Ich erinnere mich an einen Fall, den wir in Frankfurt hatten. Da hat eine junge Frau vierzehn Tabletten geschluckt. Liebeskummer, was sonst? Vierzehn Tabletten. Man hat sie am Morgen gefunden, bewusstlos natürlich, wir haben ihr in der Klinik den Magen ausgepumpt, Kampfer und Koffein gespritzt, und nach einer Woche war sie wieder auf den Beinen. Der ganze Aufwand für nichts. Sie hat sich dann vor einen Zug geworfen. Auch kein sehr ästhetisches Finale.»
    Er faltet seinen Kissenüberzug sorgfältig neu zusammen, um wieder eine saubere Stelle zur Verfügung zu haben. Ein Chirurg achtet

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