Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Sogar zu früh. Als ob wir es nicht erwarten könnten. Auch ein Symptom der Malaria westerborkiana.
Ich hatte in dieser Nacht einen Albtraum. War wieder am Gymnasium und kam zu spät zum Unterricht. Stand vor meinem Deutschlehrer, ich ganz klein und er ganz groß, und er sagte, was er tatsächlich einmal zu mir gesagt hat: «Ich weiß wirklich nicht, was aus dir werden soll, Gerson. Du kommst noch zu deiner eigenen Beerdigung zu spät.»
Sogar der Mann, der meine Träume schreibt, macht sich über mich lustig.
Es war noch dunkel draußen, da hatte ich meine Sachen schon gepackt. Hatte die noch warme Bettdecke zusammengerollt und verschnürt. Die mir dann in der Schleuse von Theresienstadt gestohlenwurde. Hatte verschenkt, was in dem einen erlaubten Koffer keinen Platz mehr fand. Nehmen Sie mein Rasiermesser ruhig. Ich werde mir einen Bart stehen lassen. Hatte mich von meinen Pritschennachbarn verabschiedet. Hatte «Auf Wiedersehen» gesagt und hätte die Worte am liebsten gleich wieder verschluckt. Weil sie für die, die noch bleiben durften, wie ein Fluch klingen mussten. Auf Wiedersehen in Theresienstadt. Auf Wiedersehen in Auschwitz. Hatte mir all die verlogen tröstlichen Sätze angehört, die ich noch am letzten Dienstag selber über die Situation geschmiert hatte wie Abdeckschminke über einen Eiterpickel. «Kopf hoch! Es wird schon werden! Unkraut verdirbt nicht.»
Stimmt. Man reißt es aus.
Hatte mich noch einmal für das Frühstück angestellt, obwohl ich – ich! – keinen Hunger hatte. Olga bestand darauf. «Wir wissen nicht, wie lang die Fahrt dauert und ob es unterwegs etwas zu essen gibt.» Sie denkt immer praktisch. In der Warteschlange ließen uns die andern vor. Bei einer Beerdigung ist man höflich zu den Leidtragenden. Zu den Toten erst recht.
Waren also pünktlich vor Ort. Stellten uns in die Reihe, an deren Ende die OD-Leute die Namen abhakten. Kurt Gerson, genannt Gerron. Olga Gerson.
Sie hielt die ganze Zeit meine Hand fest. Das war das einzige, das sie sich anmerken ließ.
Eine Frau ging auf Gemmeker zu und wollte ihn etwas fragen. Ihn um Aufschub anflehen. Sie wurde nicht mit Gewalt weggestoßen. Er sah sie gar nicht und ging an ihr vorbei. Sie insistierte nicht. Nickte nur ein paar Mal, als ob sich ihr gerade eine böse Vermutung bestätigt hätte. Stellte sich wieder in die Reihe.
Gemmeker streichelte seinen Hund. «Der einzige Nicht-Reinrassige, den er mag», sagte man im Lager. Der Standphotograph in meinem Kopf knipste die Hose, die sich über seinen Stiefelschäften bauschte. Lauter Herrenreiter, diese Weltbeherrscher.
Die Männer vom Ordnungsdienst verstanden ihr Geschäft. Wussten blind, wo die einzelnen Wagen anhalten würden. Teilten uns schon mal in Gruppen auf, damit das Einsteigen nachher schnellerging. Da, wo Olga und ich hingeschickt wurden, warteten schon ein paar Leute von der Barneveld-Liste. Alle entweder reich oder prominent. Sie hatten Beziehungen und versicherten mir, dass unser Waggon für Theresienstadt bestimmt sein würde.
Die Fliegende Kolonne brachte die ersten Invaliden. Die Geschicklichkeit, mit der sie die Karren schoben und nebeneinander aufreihten, erinnerte mich an die Gepäckträger am Anhalter Bahnhof. Als kleiner Junge war das mein Traumberuf gewesen.
Wir fahren mit der Eisenbahn, Tschu-tschu-Eisenbahn.
Auf einem andern Karren offene Kisten mit Verpflegung. Brote. Früchte. Gemüse. Sie waren wohl für die Begleitmannschaft bestimmt. Wir haben auf der Fahrt nichts davon gesehen.
Dann fuhr der Zug ein. Personenwagen dritter Klasse. Definitiv Theresienstadt.
Es gab keine großen Abschiedsszenen. Angehörige waren beim Verlad nicht zugelassen. Emotionen hätten den geordneten Ablauf stören können. Nur ein Mann vom Ordnungsdienst umarmte immer wieder ein älteres Ehepaar. Wollte sich überhaupt nicht mehr von ihnen trennen. Es waren wohl seine Eltern.
Nur acht Mann pro Abteil. Für jeden ein Sitzplatz. Zivilisiert.
Wir stellten uns einander vor wie an der Table d’hôte eines vornehmen Hotels. «Ich habe Sie in der Dreigroschenoper gesehen», sagte ein Mann zu mir. «Phänomenal.»
Die ganze Szene total absurd. Auf dem Weg zur Hölle spielten wir Gesellschaftsreise. Taten so, als ob wir nicht hörten, wie die Türen verriegelt wurden.
Als der Zug abfuhr, schaute eine Frau im Abteil auf ihre Armbanduhr. Wie um die korrekte Abfahrtszeit zu überprüfen.
Als ob wir es eilig gehabt hätten.
Das können sie nicht machen. Das können sie
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