Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Eppstein weigerte sich strikt, auch nur eine Silbe auf eigene Verantwortung hinzuzufügen. Weil der Text von Rahm persönlich abgenommen war. Ich konnte ihn schließlich dazu überreden, noch zwei Sätze aus einer alten, bereits bewilligten Rede zu sagen. Irgendwas von «einheitlicher jüdischer Haltung in der Gemeinschaftsverantwortung jedes Einzelnen». Blabla halt, das nichts bedeutet und deshalb überall reinpasst. Es wird kein Mensch merken, dass es aus einer ganz anderen Ansprache stammt.
Mit so etwas muss man sich herumschlagen.
Und dann die Geschichte heute mit dem Zahradka. Hat uns mindestens eine Stunde Drehzeit gekostet. Ich kann es ihm nicht einmal übelnehmen. Er ist ein Anfänger und hat noch nicht viel erlebt.
Wir waren vom Südberg, wo wir die Sportszenen gedreht hatten, zurückdisloziert und hatten in der Wirtschaftsabteilung auch schon alles wieder drehfertig aufgebaut. Aber als ich anfangen wollte, war unser Kameramann nicht da. Als ob er sich auf dem Wegin die Magdeburger verlaufen hätte. Ich habe jemanden nach ihm ausgeschickt, und sie haben ihn auch gefunden. Er kniete auf der Straße neben einer alten Frau, die vor Hunger umgefallen war. Wie das halt vorkommt. Konnte überhaupt nicht verstehen, dass niemand ein großes Gedöns um die Sache machte. Hatte wohl Rettungswagen erwartet und Sanitäter. War nicht von ihr wegzukriegen, bis ein Leichenkarren sie endlich weggeschafft hat.
Da arbeitet so einer bei der Wochenschau, aber wenn er einmal etwas von der Wirklichkeit mitkriegt, macht er schlapp.
Egal. Ein junger Mensch. Was kann man verlangen?
Eigentlich beneide ich ihn. Früher hätte mich eine tote alte Frau auch umgehauen. Es gibt Dinge, an die sollte man sich nicht gewöhnen. Und gewöhnt sich dann doch.
Den ganzen Rest des Tages war er flatterig und unkonzentriert. Zum Glück stand nichts Schwieriges mehr auf dem Programm. Schlechte Qualität kann ich mir nicht leisten.
Morgen drehen wir noch die Tischlerei, und dann gibt es erst mal wieder ein paar Tage Unterbrechung. Eine höhere Stelle will sich das Material ansehen. Ich wäre gern dabei. Damit der Pečený nicht erzählen kann, er habe alles ganz allein geschafft. Aber sie machen das in Prag, und mich lassen sie aus Theresienstadt nicht raus.
Wen sie einmal haben, den haben sie.
Als wir hier ankamen – ein halbes Jahr ist das jetzt her, eine Ewigkeit –, da wussten wir alle nicht, was uns erwartete. Natürlich, wir waren nicht so naiv wie die alten Leute, die meinen, sie hätten sich mit dem Rest ihres Vermögens eine Wohnung erkauft und Pflege bis ans Lebensende. Aber dass Theresienstadt besser sei als andere Lager, ein Vorzugsort, das haben wir schon geglaubt. Man hatte Glück gehabt, wenn man hierher kam, da waren wir uns einig. Nach Theresienstadt fuhren keine Viehwaggons.
Der Mensch kann noch so genau wissen, dass man ihn anlügt – was für ihn angenehmer ist, das glaubt er trotzdem. Wir sind so konstruiert.Nur schwer von der Überzeugung abzubringen, dass die Welt eine Ordnung hat. Dass es Regeln gibt.
Noch in der Schleuse haben wir uns eingeredet, dass die endlose Warterei und die Schikanen nur schlechte Organisation seien. Der Schlag in den Magen nur ein Ausrutscher. Als sie uns dann zum Entlausen geführt haben – wir hatten keine Läuse, in Westerbork kam das kaum vor –, als sie uns auf dem Weg in Richtung Wassertor angeschrien und mit den Gewehrkolben vorwärtsgestoßen haben, da habe ich immer noch gedacht: Das sind Anfangsschwierigkeiten. Das geht vorbei.
Auch dass Olga und ich unsere Schlafplätze an verschiedenen Orten zugewiesen bekamen, sie in der Dresdener Kaserne und ich in der Hamburger, auch das hat uns nicht wirklich gestört. In Westerbork sind Frauen und Männer auch in getrennten Baracken untergebracht. Wenn man hier noch enger zusammengepfercht wurde als dort, wenn der Belag noch verdichteter war, wenn man seinem Nachbarn fast in den Armen liegen musste – nun ja. Egal. Das hat man sich alles noch irgendwie zurechtgedacht.
Die erste Mahlzeit, das war der Schock. Nicht nur für mich mit meinem ewigen Hunger. Olga ging es genauso. Was sie uns hier aus dem Eimer schöpften, hätten sie in Westerbork weggekippt. Wir waren ja nicht verwöhnt, weiß Gott nicht. Aber diese erste Mahlzeit haben wir beide nicht runter gekriegt.
Heute stürzen wir uns drauf. Gier ist stärker als Ekel. Wie in dem alten Witz: Herr Wirt, zwei Sachen passen mir an Ihrem Lokal nicht. Erstens ist das Essen unter
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