Gerron - Lewinsky, C: Gerron
wir uns im Krieg an die Toten gewöhnt haben. Der Mensch kann nicht jeden Tag verzweifeln. Auch das nutzt sich ab. Man lernt, sich die Dinge nicht zu nahe gehen zu lassen. Seine Gefühle wegzusperren. Als Mama nach Westerbork abfuhr, wollte sie nicht einmal umarmt werden.
Frau Olitzki geht mir nahe. Obwohl ich sie nie richtig gekannt habe.
Sie hat viel gelacht, das weiß ich noch. Nein, auch das muss nicht stimmen. Sie hatte vielleicht nur noch nicht die Gewohnheit abgelegt, viel zu lachen. Wie Schauspieler in einem En-suite-Stück immer noch die eingeübten Töne produzieren, obwohl sie schon längst nichts mehr dabei empfinden. «Ich liebe dich», sagen sie und denken: Heute Abend könnte ich Eisbein essen. Frau Olitzkis Augen haben nie mitgelacht.
Vielleicht bilde ich mir auch das nur ein. Schreibe ihr eine Rolle zu, die in mein Drehbuch passt. Ich weiß so wenig von ihr. Nichts.
Außer dass man sie in einen Viehwaggon gepackt hat.
Sie hat keine Kinder, das hat sie mir einmal erzählt. Und ihr Mann ist mit ihr auf Transport gegangen. Vielleicht bin ich der einzige, der sich noch an sie erinnert.
Frau Olitzki aus Troppau.
«Ja, Herr Pečený. Bitte, Herr Pečený. Ganz wie Sie wünschen, Herr Pečený.» Wir sollen jetzt die Motive nur noch herunterkurbeln. Lieblos und ohne jeden künstlerischen Anspruch. Wochenschau eben.
Der Pečený will mir meinen Film unter dem Hintern wegziehen. Er sieht die Chance, sich damit bei den Deutschen lieb Kind zu machen. Will seine Tüchtigkeit beweisen, weil er auf weitere Aufträge für seine Aktualita hofft. Die SS könnte ein guter Kunde sein. Genügend Filmenswertes hat sie ja zu bieten. Ordensverleihungen. Heldengedenktage. Pečený wuselt um Rahm herum wie ein Versicherungsagent. Was heißt Alemann auf Tschechisch?
Sein brillanter Einfall: Wir drehen die Motive jetzt nicht mehr nacheinander, sondern parallel. Die eine Kamera natürlich ohne Ton. Unbrauchbares Material, aber es geht schneller. Pečený ist furchtbar stolz auf das angeschlagene Tempo. Er bedenkt nicht, dass wir jede eingesparte Minute bei der Nachbearbeitung wieder verlieren werden. Weil ich das Material der anderen Mannschaft ja überhaupt nicht kenne. Wie soll ich da den Schnitt vorbereiten? Wenn die Teile nicht zusammenpassen, werden sie sagen, es ist mein Fehler.
Ich habe ihnen den Jo Spier mitgeschickt, damit ich mir wenigstens anhand seiner Zeichnungen ein ungefähres Bild machen kann. Stochern im Nebel. Aber im Drehbericht steht dick unterstrichen 179 Einstellungen an einem einzigen Tag , und Rahm ist begeistert. Dilettanten an die Macht!
Wenn ich noch einen Beweis für meine Unwichtigkeit gebraucht hätte, heute habe ich ihn bekommen. Den guten Kameramann, den Fric, haben sie ohne mich losgeschickt und mir nur seinen zweiten Mann dagelassen. Zahradka heißt er. Ein ganz junger Mann. Kann noch nicht selbständig arbeiten. Als er zum zehnten Mal gefragt hat: «Wie möchte der Herr Regisseur es haben?», hat ihn ein SS-Mann angeschnauzt: «Das ist nicht der Herr Regisseur, das ist der Scheißjud Gerron.»
Von Neusser hätte es nicht besser sagen können.
Der Fric ist mit seiner Gruppe in die Werkstätten gegangen und auf den Geflügelhof. Einer der beliebtesten Arbeitsorte im Ghetto. Die Gänse werden mit Körnern gefüttert, und wenn keiner hinschaut, kann man sich eine Handvoll in die Tasche stecken.
Wenn ich könnte, wie ich wollte, wenn ich noch etwas zu wollen hätte, würde ich die Geflügelzucht als Motiv durch den ganzen Film ziehen. Vom gefiederten Gänsemarsch direkt überblenden auf die Schlange vor der Essensausgabe. Und so weiter. Das perfekte Bild für unsre Situation: Vögel, denen man die Flügel gestutzt hat, damit sie nicht wegfliegen können. Streiten sich um jedes Korn, und am Ende werden sie geschlachtet. Ende September wird es wohl soweit sein. Wenn die SS Erntedank feiert.
Ich durfte ein bisschen Spielfilm machen. Die Sequenz Herrenbekleidungsgeschäft . Ein richtiges Ausstattungsstück. Otto Burschatz wäre stolz auf mich gewesen. Wir haben uns bei allen möglichen Leuten Kleidungsstücke besorgt und sie malerisch drapiert. Mit dem richtigen Bildausschnitt hat es tatsächlich wie ein Laden ausgesehen. Und dann die dramatische Szene: Ein Mann probiert ein Jackett an und – Großaufnahme – strahlt übers ganze Gesicht, weil es ihm wie angegossen passt. Es war ja auch sein eigenes.
Bis zum nächsten Motiv blieben noch ein paar Minuten, und sohabe ich vor der
Weitere Kostenlose Bücher