Gerron - Lewinsky, C: Gerron
man sich einen verdienten Bühnenkünstler vorstellt. Wir nannten ihn alle nur den Kammersänger. Ich habe mir immer wieder vorgenommen, ihn zu fragen, was er ursprünglich von Beruf gewesen sei, aber ich habe es dann doch nie getan.
«Was sind Sie eigentlich von Beruf, Herr Turkavka?», frage ich.
«Philosoph», sagt er.
Soviel Witz hätte ich ihm gar nicht zugetraut. «Nein, im Ernst. Es interessiert mich. Was haben Sie gemacht, als man noch etwas machen durfte?»
«Ich war tatsächlich Philosoph», sagt er.
«Das ist kein Beruf.»
«Meine Frau hat das auch immer behauptet. Aber man hat mich fürs Philosophieren bezahlt. Ich war Ordinarius in Prag.»
«Sie sind ein Professor?» Ich kann das unhöfliche Staunen nicht aus meiner Stimme heraushalten. Es scheint Turkavka nicht zu verletzen.
«Ich war es einmal», sagt er.
«Und da machen Sie hier die Klowache?»
«Ich habe um diese Arbeit gebeten. Es schien mir angebracht.»
Doch. Wenn man ihn genauer ansieht: Ich könnte ihn mir tatsächlich in einem Hörsaal vorstellen. So wie ich mir den Kammersänger aus dem Adlon auf einer Bühne hätte vorstellen können. Nur dass der wahrscheinlich Friseur gewesen ist. Etwas in der Richtung. Nicht wie Herr Turkavka.
«Sie könnten Vorträge halten», sage ich. «Für die Freizeitgestaltung. Ich lege gern bei Dr. Henschel ein Wort für Sie ein.»
Er schüttelt den Kopf. «Das würde nicht dem entsprechen, was ich heute bin. Heute …» Er unterbricht sich, weil gerade wieder jemand die Latrine verlässt. «Bitte saubermachen», sagt er.
«Wie – entsprechen?», frage ich ungeduldig.
«Es ist alles eine Frage des logischen Denkens. Wer Veränderungen nicht akzeptiert, versucht richtige Schlüsse aus falschen Prämissen zu ziehen. Und kommt natürlich zu falschen Resultaten. Sie zum Beispiel …» Wieder geht jemand an uns vorbei. «Bitte saubermachen», sagt Herr Turkavka. «Bitte saubermachen.»
«Was ist mit mir?»
«Nun ja, Herr Gerron, um es sehr direkt zu formulieren: Sie bilden sich immer noch ein, Sie seien Regisseur.»
«Ich bin es.»
«Falsche Zeitform», sagt Herr Turkavka. «Sie waren es. Das ist nicht dasselbe. Jetzt sind Sie etwas anderes. Freiwillig oder unfreiwillig,das spielt für die Definition keine Rolle. Ich zum Beispiel bin nur noch ein alter Mann, den man eingesperrt hat. Mehr ist von mir nicht übrig geblieben. Ein Häftling, sonst nichts. Der neben einer Wassertonne steht und die Leute zum Händewaschen auffordert. Das passt zusammen. Häftlinge halten keine Vorträge.»
«Ich habe gerade in einem Film Regie geführt.»
«Das beweist nichts», sagt Turkavka. «Ein Löwe, der durch einen Reifen springt, ist kein Löwe mehr. Lassen Sie mich eine Frage stellen. Wenn man Ihnen statt des Films etwas anderes befohlen hätte, auf dem Bauch durch die Straßen zu kriechen, beispielsweise – hätten Sie es getan?»
«Um nicht auf Transport zu gehen? Bestimmt.»
«Eine vernünftige Entscheidung. Und Sie hätten sich deswegen nicht als Bauchkriecher definiert. Nicht in Ihrer Essenz, wie Aristoteles das genannt haben würde. Sie hätten sich definiert als ein Mensch, der weiterleben will.»
«Regisseur ist mein Beruf!»
«War Ihr Beruf», sagt Turkavka. «Bitte saubermachen. Sie verwechseln Vergangenheit und Gegenwart, Herr Gerron. Wie es viele hier im Ghetto tun. Das mag tröstlich sein, aber vernünftig ist es nicht.»
«Kann man vernünftig bleiben, wenn die Welt verrückt geworden ist?»
«Eine gute Frage», sagt Turkavka. «Rein rhetorisch betrachtet. Wenn man sie allerdings inhaltlich analysiert …»
Ich fange plötzlich an zu lachen. Weil mir klar geworden ist, dass Herr Turkavka, Herr Professor Turkavka, sich auch nicht anders verhält als ich. «Warum führen wir diese Debatte?», frage ich ihn.
«Ohne besonderen Grund.»
«Nein, Herr Turkavka. Sie diskutieren mit mir, weil Sie sich mit jedem Argument selber beweisen, dass Sie immer noch das sind, von dem Sie behaupten, es nicht mehr zu sein. Ein Philosoph.»
Er schaut mich an und lächelt. Nein, lächelt nicht. Grinst. «Touché», sagt er. Und dann: «Bitte saubermachen. Bitte saubermachen.»
Ich muss schon wieder scheißen.
581. Halbnah. Egerbad. Ein Mann steht auf dem Sprungbrett und springt mit einem doppelten Salto ins Wasser.
«Sie müssen schon entschuldigen», sagt Jakub Lischka. «Ich weiß, dass der Sprung nicht sauber war. Das Hungern schlägt mir aufs Gleichgewicht.»
«Das macht nichts», sage ich. «Aus
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