Gerron - Lewinsky, C: Gerron

verstanden, warum mir das Angst machte. Ich dachte an Kanonen.
    Nur am Bach die Nachtigall.
    Ich habe nie gelernt, Noten zu lesen. Aber ich kann jede Melodie nachsingen, die man mir vorspielt. Jede. Der Mann summt immer noch. Ich setze im richtigen Moment ein und singe die Melodie verschoben weiter. Wir sind ein Chor. Die Tenöre hatten Typhus, und die Bässe hatten Ruhr.
    Singt ihre Weise klagend und leise durch das Tal.
    Ein Schlaflied.
    Schlaf.
    Schlaf.
    Etwas stößt mich in die Rippen. Ich schrecke auf. Haindl steht vor meiner Pritsche. Einen Gummiknüppel in der Hand. Haindl und ein zweiter SS-Mann. Der junge mit dem pickligen Gesicht. Der mich damals ins Kasino in der Kommandantur gebracht hat. Weil ich mir ein Bild ansehen sollte.
    Haindl ist hinterhältig. Er liebt Kontrollen, weil er dabei Fehler findet. Er liebt Fehler, weil sie ihm Grund zum Strafen geben. Er liebt Strafen. Dr. Springer hat mir erzählt, dass er immer mal wieder in der Krankenstation auftaucht. Auf der Suche nach Drückebergern. Was immer er darunter versteht.
    Ich habe mich bloßgestrampelt. Seit ich kein Fieber mehr habe, ist mir jede Decke zu heiß. Als mein Körper überhitzt war, habe ich gefroren. Ich liege da, das Nachthemd bis zur Brust hochgerollt, und vor meiner Pritsche steht Haindl.
    Und lacht.
    Lacht.
    «Aufstehen!», kommandiert er.
    Die Wände drehen sich, aber ich stehe. Versuche Haltung anzunehmen. Die Hände an der Hosennaht. Ich habe keine Hosen an.
    Haindl schiebt mein Nachthemd in die Höhe. Bis über die Schenkel. Bis über den Bauch. «Festhalten!», sagt er.
    Er geht vor mir in die Hocke. Wie der Junge in Kriescht damals. In Nesselkappe. Der Junge mit dem grauen Pullover. Mit seinem Knüppel hebt er mein Glied an. Nicht grob. Sorgfältig.
    Hebt mein Glied an und lacht.
    «Schau dir das an!», sagt er zu dem andern. Und auch der geht in die Hocke. Ganz nahe vor mir.
    «Der Mann hat keine Eier», sagt Haindl. Sagt es laut. Jeder im Saal kann es hören. «Keine Eier!» Er kann sich überhaupt nicht beruhigen.
    «Ein Gersönchen!», hat der Junge in Nesselkappe gesagt. Und seine Kumpel haben gelacht.
    Jetzt lacht auch der Pickelkopf. Jetzt lachen beide. Jetzt lachen alle.
    Über mich.
    Keine Eier. Keine Eier. Keine Eier.
    Ich möchte tot sein.
     
    870. Totale. Vorstellung von Brundibár. Der Leierkastenmann tritt auf.
    Es ist Hitler, aber die SS hat es nicht gemerkt.
    875. 876. 877. Gruppen von begeisterten Kindern.
    878 . Groß. Der Leierkastenmann singt.
    Das Tippen geht schon besser. Man kann alles lernen. Nur länger als eine halbe Stunde kann ich nicht arbeiten. Dann muss ich eine Pause machen. Aber wenn sie den Schnittplan haben wollen, wird der Schnittplan bereit sein. Wenn sie den Gerron haben wollen, wird der Gerron bereit sein. Mir kann niemand etwas vorwerfen. Ich war krank.
    890. Nah. Die Bühne. Das Finale.
    893 . Ende des Stückes. Applaus. Verbeugen.
    «Hände waschen!», ruft die Frau am Latrineneingang. Sie hat eine unangenehme Stimme. «Hände waschen!» Turkavka ist auf Transport gegangen. Jetzt ist er endgültig kein Professor mehr.
    Ich muss weiterarbeiten.
    Muss.
    960. Bühnensaal. Vorstellung von «In mitt’n Weg». Der Rabbi sitzt am Tisch.
    Mendel Wajskop hieß der Schauspieler. Ein Schmierant, aber wirkungsvoll. Auch abgewandert. Auf Transport gegangen. Nach Auschwitz verschickt.
    970. Totale von oben. Die Juden gehen zum Tanz.
    971 . Halbnah. Der Tanz beginnt.
    972. Näher. Die ersten Schritte.
    973. Groß. Der Tanz.
    974. Groß. Kamera in der Mitte. Sie drehen sich um die Kamera.
    Eine effektvolle Einstellung. Ich bin ein guter Regisseur.
    Mir ist schwindlig.
    985 . Nah. Der Rabbi schwankt und wird zum Tisch geführt.
    989 . Sehr nah. Im Vordergrund die beiden brennenden Kerzen. In der Mitte der Rabbi bis zu dem Augenblick, wo er stirbt.
    990 . Totale. Der Saal applaudiert.
    Ich muss mich hinlegen.
    Olga ist hier gewesen und wieder weggegangen. Sie hat mir eine Kartoffel gebracht. Sie hat mir nicht gesagt, wo sie sie her hat. Eine ganze Kartoffel.
    «Man soll die Schale nicht essen», sagt Dr. Springer. Man kann sich eine Vergiftung holen. Ich esse die Schale als erstes. Das habe ich als Kind schon so gehalten. Zuerst das ungeliebte Rotkraut und dann erst das Stückchen Gänsebrust. Die fettige Haut knusprig geröstet, und …
    Ah.
    Pawlow heißt der Professor. Er läutet eine Glocke, und die Hunde sabbern.
    Die Kartoffelschale schmeckt bitter. «Sie müssen jetzt auf Ihre Ernährung