Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Sehr distinguiert. Ein kleiner Schnurrbart, der ein bisschen an den von Adolf erinnert. Ich habe ihn danach gefragt, und er hat sehr spitz geantwortet: «Ich trug ihn schon so, bevor dieser Herr berühmt wurde.» Das erste, was mir an ihm auffiel, war sein gelber Stern. Wie der an seinem Arbeitskittel befestigt war. Mit einem komplizierten, kunstvollen Zierstich. Muss eine Riesenarbeit gewesen sein.
Herr Gundermann ist einmal ein bekannter Mann gewesen. Erster Schneider beim exklusivsten Herrenausstatter der Tschechei. Die Firma gehörte ihm nicht, aber wenn sich jemand in Prag einen neuen Anzug anmessen lassen wollte und sich die beste Qualität leisten konnte, dann sagte er: «Ich gehe zu Gundermann.» In Theresienstadt hat man ihn in die Schneiderei gesteckt. Flickarbeit, sonst ist dort nichts zu tun. Wenn nicht jemand aus der Kommandantur etwas bestellt.
Die Arbeit weit unter seiner Würde. Aber er beschwerte sich nie. Was man ihm auftrug, führte er aus, und zwar so sorgfältig, als ob jedes fadenscheinige Hemd, dem er neue Manschetten machen sollte, zum Sonntagsstaat eines Millionärs gehörte.
Ich weiß nicht, wo er den Stoff herbekommen hat. Wenn er zusammengestückelt war, dann hat man ihm das nicht angesehen. Herr Gundermann hat sich ein Jackett gebaut. Das war sein Wort. Gebaut . Ein Kleidungsstück, hat er mir erklärt, muss konstruiert werden wie ein Haus. So sorgfältig und so stabil. «Einen Anzug von mir», sagte er, «müssen Sie Ihrem Sohn vererben können. Oder ihn im Sarg anziehen. Auch dann muss er noch wie neu aussehen.»
Das Jackett – grau, mit breitem Revers – hing in der Schneiderei am Bügel und wurde Besuchern so stolz vorgeführt, wie ein Trödler das einzig echte Stück im Laden präsentiert. Jetzt kam es in der Kleidergeschäft-Szene zu Filmstar-Ehren. Herr Gundermann spielte den Käufer. Probierte an und strahlte. Ich musste ihn nicht dazu überreden. Er war stolz darauf, dass ihm seine Arbeit wie angegossen passte.
So weit, so gut. Eigentlich hätte niemand wissen müssen, wer der Darsteller gewesen war. Im Drehbericht stand nur Kunde . Aberich hatte, für den Fall, dass Rahm das drinhaben wollte, auch die Abgabe des Bezugsscheins gefilmt. Wie man ihn braucht, wenn man sich aus der Kleiderkammer etwas erbetteln will. Hatte mir bei der Wirtschaftsabteilung so eine Karte besorgt und hinterher natürlich nicht mehr daran gedacht. Herr Gundermann auch nicht.
Aber die Wirtschaftsabteilung dachte daran. Weil jetzt auf irgendeiner Liste diese Karte fehlte. Die Wirtschaftsabteilung fragte bei der Freizeitabteilung nach, die Freizeitabteilung schaltete die Detektivabteilung ein, und schließlich fand sich der Bezugsschein in der Tasche des Jacketts. Am Bügel in der Schneiderei.
Herr Gundermann wurde zu zehn Tagen Arrest verurteilt. Wegen unbefugter Verwendung eines offiziellen Dokuments. Wir haben eine Gerichtsbarkeit, ja. Keine Gerechtigkeit, aber ein Gericht. Ordnung muss sein.
Er hätte seine Zeit abgesessen, ohne sich zu beschweren. Es ist keine große Veränderung, wenn man im Gefängnis ins Gefängnis gesperrt wird. Aber dann erging von der Kommandantur der Erlass, dass alle Arrestanten auf die nächste Abwanderungs-Liste gesetzt werden sollten. Es war also nicht eigentlich der Film, der Herrn Gundermann zum Osttransport bestimmte.
Doch, es war der Film. Es ist ein Fluch an ihm.
Aber das Unglück ist in Theresienstadt so zufällig verteilt wie das Glück. Aus Versehen kann zwischen all die Nieten auch einmal ein Gewinnlos geraten. Ein SS-Mann hatte sich bei Gundermann eine Hose bestellt und wollte sie abholen. Hatte sogar die Bezahlung mitgebracht: Drei Kartoffeln und einen Apfel. Aber die Hose war nicht fertig und Gundermann nicht da. Er saß schon in der Schleuse und wartete auf den Zug.
Nun kann man durchaus nach Auschwitz geschickt werden, weil man einen SS-Mann nicht richtig gegrüsst hat. Weil man eine Nase hat, die ihm nicht gefällt. Aber man kann nicht einfach nach Auschwitz abhauen, wenn eine Hose noch nicht fertig ist. Ein Mensch mehr oder weniger spielt keine Rolle, aber eine Hose ist eine Hose.
Elias Gundermann wurde aus der Schleuse wieder rausgeholt und von der Liste gestrichen. Es sind also doch nicht zweiundzwanzig Namen, sondern nur einundzwanzig.
Nur.
115. Groß. Das Schild «Gericht».
116. Groß. Die Figur der Justitia.
117. Schwenkaufnahme. Im Gerichtssaal. Über die ganze Totale bis zum Staatsanwalt.
118
Es fängt wieder an. Genau wie in
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