Gerron - Lewinsky, C: Gerron
gleich. Nur einer war da, ein Zauberer, der mochte überhaupt keine Riesen. Am Morgen nicht, am Mittag nicht, und am Abend schon gar nicht. Niemand wusste warum. Es war ihm nie ein Riese auf den Fuß getreten. Es hatte ihm nie einer den Kessel umgestoßen, in dem er seine Zaubertränke braute. Er mochte die Riesen einfach nicht. Solche Dinge kommen manchmal vor. Es ist nicht einfach, Riese zu sein.»
«Darum nimmst du jeden Tag deine Schrumpfpillen.»
«Genau», sagte Großpapa und erzählte weiter. «Eines Tages machte der Zauberer dem Riesen ein Geschenk.»
«Wieso?», fragte ich. «Wenn er ihn doch nicht mochte.»
«Es war ja auch kein nettes Geschenk», sagte Großpapa. «Es sah nur so aus. Es war ein Orden, mit Gold und Silber und Diamanten verziert. Und auf dem Orden stand: Ich bin ein Riese . ‹Den sollst du jetzt immer tragen›, sagte der Zauberer. ‹Damit die Leute dich erkennen.› Der Riese freute sich über das Geschenk und befestigte den Orden sofort an seinem Jackett. Es sah wirklich sehr schön aus. Aber …»
Er machte eine Pause. Wenn wir nicht im Bett gelegen hätten, würde er an seiner Zigarre gezogen haben.
«Aber», erzählte er weiter, «der Orden war verzaubert. Drei Tage in Zaubersuppe gekocht und dreimal mit Zaubersalz bestreut. Wer ihn trug – das war die Gemeinheit, die sich der Zauberer ausgedacht hatte –, der wurde jeden Tag ein ganz, ganz kleines bisschen kleiner. Und genau das geschah mit dem Riesen.»
«Wieso hat er den Orden nicht wieder abgenommen?»
«Das war ein Teil des Zaubers», sagte Großpapa. «Der Riese merkte nicht, dass er immer kleiner wurde. Er hielt sich immer noch für den größten Riesen der Welt. Auch als er den Häusern nicht mehr aufs Dach schauen konnte. Nicht einmal in die Fenster der ersten Etage konnte er mehr sehen, und dann auch nicht mehr in die vom Erdgeschoss. Er wurde kleiner und kleiner und merkte es nicht. Irgendwann waren die Blumen größer als er und dann auch die Gräser. Der kleinste Kieselstein war ein Berg. Als nur noch einganz, ganz winziges Pünktchen von ihm übrig war, da stand der Zauberer auf ihn drauf und schmierte ihn in den Boden hinein. Wischte sich die Schuhsohlen an einem Büschel Gras sauber. Jetzt gab es den Riesen nicht mehr. Nur sein Orden lag noch da. Aber der Schriftzug hatte sich verändert, das gehörte auch zu dem Zauber. Jetzt stand darauf: Ich war einmal ein Riese .»
«Das ist keine schöne Geschichte», sagte ich.
Ich weiß nicht mehr, was Großpapa damals geantwortet hat. Ich weiß, was er mir hätte antworten können. «Nein, es ist keine schöne Geschichte», hätte er sagen können. «Aber es ist deine.»
Seit heute hängen überall Plakate. Eine Bekanntmachung von Murmelstein. Disziplin, schreibt er, ist jetzt das Wichtigste. Gerade in schwierigen Zeiten. Ruhe und Ordnung. Wir müssen alle Opfer bringen für die Gemeinschaft. Schreibt er.
Sein Vorgänger Eppstein – kaum verschwunden und schon fast vergessen – hat seine Ermahnungen nicht anders formuliert. Aber er hat sie nie auf Plakate drucken und an die Wände kleben lassen. Dass Murmelstein das für nötig hält, kann nichts Gutes bedeuten. Nicht in Theresienstadt, wo noch jede Veränderung eine Wende zum Schlechteren bedeutet hat. Zum noch Schlechteren.
Man munkelt, dass die Transporte wieder losgehen sollen. In ganz großem Stil. Fünftausend Leute müssen weg, sagen die einen. Nein, sagen die andern, zehntausend. Mindestens. Überbieten sich gegenseitig. Der größere Horror schlägt den kleineren. Jede Schreckensphantasie wird geglaubt. In der ersten Schulklasse spielten wir einmal ein Spiel, in dem hatte gewonnen, wer sich die größte Zahl ausdenken konnte. Millionen, Milliarden, Billionen haben wir uns um die Ohren gehauen. Ohne eine Vorstellung davon zu haben, was diese Worte bedeuteten. Bestimmt zwei Wochen lang haben wir das in jeder Pause gespielt. Bis eines Tages einer mit einem Papierstreifen in die Schule kam, den hatte er sich mit Hilfe seiner Eltern zu Hause zusammengeklebt und mit einer endlosen Reihe von Ziffern beschriftet. Selbst Herr Olze, unser Klassenlehrer,konnte die Zahl nicht lesen. Da war das Spiel zu Ende. Mit den Gerüchten über die geplanten Deportationen geht es so ähnlich. Fünfzehntausend, hat heute jemand gesagt. Die JMA macht Überstunden.
Noch etwas anderes gibt zu endlosen Spekulationen Anlass: Alle Vorstellungen im Ghetto sind abgesagt. Keine Konzerte, kein Theater. Das Karussell dreht sich
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