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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Damit sie sich streiten kann.
    Ich habe den ganzen Tag nichts zu tun. Früher hätte mich das gestört. Es stört mich nicht mehr.
    Die Schreibmaschine haben sie wieder abgeholt. Ich kann am Schnittplan nichts mehr ändern. Aber mein Vorschlag ist gut. Ich glaube, dass er gut ist. Ich hoffe es. Ich verstehe nichts mehr davon. Ich verstehe von nichts mehr etwas.
    Den Plan habe ich sorgfältig in der unteren Margarinekiste verstaut. Zweiundfünfzig Seiten. EintausendeinhundertachtundvierzigEinstellungen. Der Packen Papier ist meine Lebensversicherung.
    Ich weiß nicht, warum es mit dem Film nicht weitergeht. Vielleicht haben sie einfach andere Sorgen. Der Krieg läuft nicht gut für sie. 1914 hat Papa eine Landkarte gekauft und den Frontverlauf mit farbigen Stecknadeln markiert. Die Karte, die er jetzt brauchen würde, wird immer kleiner.
    Die Tage sind grau. Am Nebel merkt man, dass Theresienstadt nah an der Eger liegt. Ich friere ständig, obwohl ich kein Fieber mehr habe. Mein inneres Thermometer ist defekt. Alles an mir geht aus dem Leim. Ich löse mich auf.
    Bei der Essensausgabe werden die Portionen immer kleiner. Es heißt, es gibt Transportschwierigkeiten. Sogar die SS, erzählt man sich, hat einmal zwei Tage kein frisches Brot bekommen.
    Die Dänen hungern jetzt auch, sagt Olga. Es kommen keine Pakete mehr an. Oder sie werden gleich bei der Ankunft gestohlen. Geschleust.
    Olga will, dass ich mich bewege. Mindestens einmal am Tag soll ich einen Rundgang machen. Von der Geniekaserne zur Geniekaserne. Aber der Weg ist so unendlich weit. Theresienstadt ist zu groß für mich geworden. Am liebsten würde ich unser Kumbal überhaupt nicht verlassen. Mein Bett nicht verlassen.
    Ich denke jetzt viel an Großpapa. Wie er unter seiner Decke lag, und ich musste meine erste Zigarre für ihn rauchen. Wie er lachte, als ich kotzen musste. Wie er noch ein letztes Mal gelacht hat. Manchmal scheint mir, dass ich ihn reden höre. Ich habe seine Stimme nicht vergessen. Seine Stimme nicht und nicht die Geschichten, die sie mir erzählt.
     
    Großpapa machte jeden Tag seinen Mittagsschlaf. Wenn ich bei ihm zu Besuch war, kannte ich nichts Schöneres, als zu ihm ins Bett zu kriechen. Mama und Papa hätten mir das nie erlaubt.
    Er roch nach Zigarrenrauch und nach dem Gläschen Schnaps, das er sich nach jedem Essen genehmigte. «Zur Verdauung», sagte er.Trank es auf einen Zug aus und schüttelte sich. Viele Jahre habe ich geglaubt, es sei eine Medizin, die ganz scheußlich schmecke.
    Er schlief auf der Seite und legte dabei seinen Arm über mich. Ich habe mich nie wieder so beschützt gefühlt. An seiner Hand waren zwei Finger gelb verfärbt. Das kam von den Zigarren. Mir hat er erzählt, er habe einmal einem Chinesen die Hand geschüttelt. Ich wusste, dass seine Geschichten nur erfunden waren, aber ich habe sie alle geglaubt.
    Ich bin immer wach geblieben, während er schlief. Auch wenn ich müde war. Die Zeit war zu schön, um sie mit Schlafen zu verschwenden.
    Das Aufwachen begann bei Großpapa mit Husten. Auch das kam von den Zigarren. Er öffnete die Augen nicht gleich, sondern tastete an mir herum und sagte: «Wer hat denn diesen jungen Hund neben mich gelegt?» Oder: «Hab ich doch tatsächlich meinen Regenschirm mit ins Bett genommen.» Ich versicherte ihm dann – das war unser Spiel, und wir genossen es beide –, dass ich kein Hund sei und kein Regenschirm, sondern Kurt, sein Enkel Kurt. Und er wollte es nicht glauben. Es war der erste Dialog, den ich in meinem Leben einstudierte, und er endete immer mit demselben Text. «Du kannst gar nicht mein Enkel Kurt sein», sagte Großpapa. «Sonst hättest du mich schon lang um eine Geschichte gebeten.» Und ich: «Eine Geschichte, Großpapa! Bitte, bitte, eine Geschichte!»
    Dann drehte er sich auf den Rücken, ich kuschelte mich in seinen ausgestreckten Arm, und er begann zu erzählen. Am liebsten hörte ich Geschichten von Riesen. Wo doch auch Großpapa heimlich einer war.
    Eine dieser Geschichten ging so:
    «Es war einmal ein Riese, der war groß und stark und dumm. So groß, dass er auf alle andern hinabsah. So stark, dass er sich selber am Kragen packen und in die Luft heben konnte. So dumm, dass er glaubte, es müssten ihn alle Menschen gern haben. Weil er doch so ein netter Riese war.»
    «War er ein netter Riese?»
    «Manchmal war er nett, und manchmal war er unausstehlich.Manchmal hatten ihn die Menschen gern und manchmal auch wieder nicht. Das bleibt nicht immer

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