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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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nicht mehr. Die Alleswisser erklären das so: Nach den neuen Transporten wird kein Ensemble mehr vollständig sein. Selbst die Zweitbesetzungen werden fehlen. Aber das muss nicht stimmen. Vielleicht hat das Verbot gar nichts mit Theresienstadt zu tun. Auch im Reich haben sie die Theater geschlossen. Das hat Olga von den Dänen mitgebracht. Die Schauspieler gehen alle an die Front, wurde gesagt. Was wohl bedeutet: Sie lassen sich in Uniformen photographieren. In maßgeschneiderten Uniformen. Ich kenne meine Kollegen.
    Wir sind im letzten Akt. Daran gibt es keinen Zweifel. Der Rest ist Schweigen.
    Filme werden im Reich weiterhin gedreht, das weiß ich aus derselben Meldung. Es lässt mich hoffen. Wenn Theresienstadt geleert wird, werden sie meinen Film erst recht brauchen. Um der Welt zu beweisen, dass wir alle noch da sind.
    Die SS-Leute, auch das fällt auf, gehen nur noch zu zweit durchs Ghetto. Eine neue Vorschrift. Ob sie Widerstand erwarten? Widerstand gegen was? Von wem? Wir sind ausgehungert und entkräftet. Und selbst wenn … Um uns zu besiegen, müssten sie keine Waffen einsetzen. Kein Giftgas. Der Duft von frisch gebackenem Brot würde genügen. Wir würden ihm folgen wie Hameler Ratten.
    Denn die Brotstücke werden immer kleiner und die Suppen immer dünner. «Den Deutschen gehen die Vorräte aus», sagen die einen. Die andern erklären sich den Mangel so: «Die Buchführung war schneller als die Tatsachen. In ihren Plänen sind wir schon fünftausend Mäuler weniger.» Oder zehntausend. Oder fünfzehntausend. «Ihr werdet schon sehen», sagen sie.
    Wir werden schon sehen.
    Man hört auch plötzlich neue Gerüchte über die Zustände inAuschwitz. Gruselgeschichten, die ich nicht glauben kann. Nicht glauben will. Auch wenn die Leute schwören, dass die Information direkt von Murmelstein kommt. An dem Tag, an dem ihn Rahm zum Judenältesten gemacht hat, soll er gesagt haben: «Nun bin also ich derjenige, der die Menschen in den Tod schickt.» Jeder will es aus absolut zuverläßiger Quelle haben, von jemandem, der selber dabei war oder doch einen kennt, der ganz bestimmt weiß … Egal. Angst hat Phantasie schon immer beflügelt. Natürlich sind die Nazis Verbrecher, aber für so einen Massenmord würden sie niemals genügend Komplizen finden. Es wird auf Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen hinauslaufen, und natürlich werden das nicht alle überleben. Das ist schlimm genug, ohne dass wir uns noch Schlimmeres ausdenken. Was sich die Leute erzählen, wäre schon rein organisatorisch nicht möglich. Dafür sind viel zu viele Leute deportiert worden.
    Ich arbeite seit Tagen daran, eine Liste der Menschen aufzustellen, die ich in Westerbork und Theresienstadt gekannt habe und die nach Auschwitz geschickt worden sind. Bevor man die Schreibmaschine und das Papier bei mir abgeholt hat, habe ich heimlich ein paar leere Blätter zwischen den Seiten des Schnittplans versteckt. Habe sie geschleust. Papier ist kostbar. Ich schreibe meine Liste in ganz kleinen Buchstaben, aber es wird ein Blatt nach dem anderen voll. Vorderseite und Rückseite. So viele können gar nicht tot sein.
    Oder doch?
    Olga meint, ich solle das lassen. «Es ist makaber», sagt sie. Also passend für unsere Situation. Seit sie mich einmal in ein Konzert mitgeschleppt hat, weiß ich, was Danse macabre bedeutet.
     
    Nein.
    Nein. Nein.
    Doch.
    Ich habe meine Einberufung bekommen. Den Text für meine letzte Szene. Auf einem schmalen Streifen Papier.
    Wir haben Ihnen hierdurch mitzuteilen, dass Sie in den Transport eingereiht wurden.
    Hierdurch. Amtssprache.
    Haben mitzuteilen. Wir sind es nicht selber. Wir führen nur aus. Von einer anonymen Macht gezwungen. Er sitzt da mit seiner Gigantenschere und schneidet. Wir haben nur mitzuteilen. Sie haben nur zu gehorchen. Dass Sie in den Transport eingereiht wurden. Imperfekt. Vergangenheit. Es ist schon passiert und lässt sich nicht mehr ändern. Pech gehabt. Und: Eingereiht. Ein Militärwort. Das letzte Mal habe ich es im Atelier gehört. Eine neue Tänzerin wurde bei den Girls eingereiht. Jetzt darf auch Kurt Gerron die Beine schwingen.
    Sie haben sich zur Abfertigung pünktlich am Sammelplatz Lange Straße 5 einzufinden.
    Es gibt keine Lange Straße. Das ist ein Blendwort, das sie für die Stadtverschönerung eingeführt haben. L 3 heißt das. Sie haben sich in L 3-05 einzufinden. In der Hamburger Kaserne. In der Schleuse. Zur Abfertigung. In einem Revuesketch hatte ich mal den Satz: Ich bin mir auf

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