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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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wissen.»
    «Was ist mit all den Leuten, die auf Transport gegangen sind?», frage ich. «Hat keiner von ihnen etwas bereut?»
    Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, mit ihm zu diskutieren. Obwohl es keinen Sinn macht. Es geht mir wie dem alten Turkavka: Solang ich mein Gehirn in Gang setzen kann, habe ich noch eins.
    «Ich habe bereut und bin noch da», sagt er. «Meine Brüder haben sie abgeholt. Aber ich bin noch da.»
    «Eingesperrt», sage ich.
    «Ich kann jederzeit hinausgehen. Das Tor steht offen.»
    «Man erschießt Sie, wenn Sie es versuchen.»
    «Nur wenn Gott es so beschlossen hat. Nur wenn ich im Buch des Todes eingeschrieben bin. Eingeschrieben und besiegelt. Wenn ich im Buch des Lebens stehe, kann mich keine Kugel treffen.»
    Plemplem, aber logisch. Er war einmal Wissenschaftler, und das steckt immer noch in ihm drin.
    «Dann gibt es also nur Leben oder Tod?», frage ich. «Nichts dazwischen?»
    «Es gibt die Hölle», sagt er. «Aber nur für die ganz Schlechten dauert sie ewig. Für die Durchschnittlichen …» Er schließt die Augen und schaukelt hin und her. «Nach zwölf Monaten», singt er,«werden die Körper zerstört und die Seelen verbrannt. Der Wind streut ihre Asche unter die Füße der Frommen.»
    Ein SS-Mann nähert sich. Der falsche Rabbi verliert das Interesse an mir und eilt auf ihn zu. «Morgen werden wir es erfahren», sagt er. «Morgen am Versöhnungstag.» Er bekommt einen Schlag ins Gesicht und fällt hin. Auf allen Vieren kriecht er hinter dem Uniformierten her. «Morgen», wiederholt er immer wieder. «Morgen ist der Tag.»
    «Was sprichst du mit dem Mann?», fragt Olga. Ich habe sie nicht kommen sehen. «Weißt du nicht, dass er verrückt ist?»
    «Vielleicht sind das die einzig Vernünftigen.»
    «Du solltest nicht philosophieren», sagt sie. «Davon wirst du nicht satt.»
    Sie hat nichts zu essen mitgebracht. Die Dänen waren heute nicht freigiebig.
     
    Der falsche Rabbi ist ein Prophet. Am Versöhnungstag haben sie Eppstein verhaftet. Den mächtigsten Juden in Theresienstadt. Haben ihn in die Kleine Festung gebracht und gestern erschossen. Eingeschrieben ins Buch des Todes.
    Wegen Fluchtversuchs, sagen sie. Was natürlich Unsinn ist. Man kann aus Theresienstadt nicht weglaufen. Und selbst wenn – niemand hätte weniger Grund dazu gehabt als Eppstein. Ihm ging es doch gut. Mit seiner Wohnung und den Spritzen, die er von Dr. Springer bekam.
    Ihm ging es doch gut.
    Rahm hat Murmelstein zum Nachfolger ernannt. Der König ist tot, es lebe der König. Es weiß noch niemand, wie er sein Amt ausüben wird. Ob man ihn bestechen kann und womit. Die alten Schuldscheine sind verfallen. Die sorgfältig aufgebauten Beziehungen haben ihren Wert verloren. Bankguthaben in der Inflation. Teilen wir Ihnen mit, dass Ihr Konto wegen Geringfügigkeit aufgelöst werden musste.
    Olga meint, ich soll mich bei Murmelstein melden lassen. Ihnfragen, ob er etwas über den Film weiß. Aber zu ihm wollen jetzt alle. Ein neuer Intendant hat das Theater übernommen, und die Schauspieler stehen vor seinem Büro Schlange. Es gibt neue Rollen zu verteilen. Neue Pöstchen.
    Ich gehe nicht hin. Was mich betrifft, wird schon am schwarzen Brett stehen.
    Ich habe nicht die Kraft, etwas zu unternehmen. Ich schlafe schlecht und wache noch schlechter auf. Meine Träume verschütten mich. Jeden Tag wird es schwieriger, mich aus ihnen herauszugraben. Die Überreste der Albträume in meinem Mund wie ein fauliger Geschmack. Ich habe Dr. Springer gefragt, ob er ein Mittel dagegen weiß, und er hat geantwortet: «Ich kenne nur eines.» Er meint das Gift, das er für sich hortet. Er hebt sich die Möglichkeit zum Selbstmord auf, wie ich mir als Kind das letzte Stück Braten. Damit man doch immer noch etwas Angenehmes vor sich hat.
    Mir würde er das Mittel auch besorgen, aber ich werde ihn nicht darum bitten. Wenn es so weit ist, stirbt man auch so.
    Bis ich mich endlich aus dem Bett gequält habe, ist Olga immer schon bei der Arbeit. Sie magert jeden Tag mehr ab. Und bringt noch die Energie auf, Witze darüber zu machen. «Ich sehe aus wie mein eigenes Röntgenbild», hat sie vor ein paar Tagen gesagt.
    Ich bin alt geworden. Siebenundvierzig Jahre und ein alter Mann. Der Weg zur Latrine wird jeden Tag länger. Schon zweimal bin ich über die fehlende Treppenstufe gestolpert.
    Die Frau, die jetzt die Wassertonne bewacht, sagt ihr «Hände waschen!» so herausfordernd, als ob sie hofft, dass ihr jemand widerspricht.

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