Gerron - Lewinsky, C: Gerron
und wenn man ihn dann anspricht – essoll schon vorgekommen sein –, lässt er den einen oder andern wieder laufen. In letzter Minute. Schickt stattdessen jemanden von der Reserveliste auf die Reise. Einen von denen mit den vierstelligen Nummern. Die sich schon sicher gefühlt haben. Ein Transport besteht aus exakt tausend Menschen. Einen für jedes Jahr ihres Reichs. Sie lieben runde Zahlen.
Rahm braucht mich noch. Ich habe einen Schnittplan vorbereitet, und der Schnittplan ist gut. Ich werde ihn ansprechen, und er wird den Irrtum korrigieren.
Wenn es kein Irrtum ist, werde ich mir Prügel einhandeln.
Egal.
Niemand lässt einen Film unfertig liegen. Hugenberg wollte sogar Peter Lorre nach Berlin zurückholen, nur um weiterdrehen zu können. Sie brauchen mich.
Als ich aus der Magdeburger zurückkomme, sitzt Olga immer noch am selben Platz. Als ob sie sich nicht gerührt hätte. Aber sie trägt jetzt das Pappschild mit ihrer Nummer um den Hals. XXXI/622.
Morgen früh um neun müssen wir dort sein. In der Schleuse. Pünktliches Erscheinen ist unbedingt erforderlich. Zur Vermeidung behördlicher Maßnahmen.
Ich werde keinen Koffer packen. Das würde bedeuten, dass ich aufgegeben habe. Die Schleussenmühlen-Decke werde ich auf dem Bett liegen lassen. Wir werden in unser Kumbal zurückkommen. Es kann gar nicht anders sein. Ich bin Kurt Gerron, und der Film muss fertig werden.
Nur mein leeres Zigarrenetui werde ich einstecken. Wegen des Dufts.
Olga fragt nicht, ob ich etwas erreicht habe. Ich hänge mir auch mein Pappschild um und setze mich ihr gegenüber auf die Stabelle. 621 und 622. Wir schauen uns an.
Hinter ihr, auf dem Regal an der Wand, steht die vertrocknete Rose in ihrer Konservendose. Daneben liegt die steinharte Scheibe Brot. Mein Verdienstorden. Vielleicht nehme ich sie mit.
Ein seltsames Gefühl, dass das heute vielleicht unser letzter Tagin diesem Zimmer ist. Dass man nicht weiß, ob wir jemals wieder etwas so Luxuriöses bekommen. Ein Doppelstockbett. Zwei Stühle. Zwei Margarinekisten. VYNIKAJÍCÍ KVALITY.
Unser letzter Tag? Ich darf das nicht einmal denken. Der Irrtum wird sich aufklären. Wir werden zurückkommen. Und dankbar sein für den Geruch der Latrine.
«Ich werde jetzt packen», sagt Olga. Aber sie bleibt sitzen.
Ihre Stachelhaare fangen an grau zu werden. Das ist mir vorher noch nie aufgefallen. Es spielt keine Rolle. Sie ist meine wunderschöne Olga.
XXXI/622.
«Ich liebe dich», möchte ich sagen. Die Worte wollen sich in meinem Mund nicht zusammensetzen. Stattdessen fange ich an zu summen. Sie erkennt die Melodie, und einen Moment lang zieht etwas über ihr Gesicht, das beinahe ein Lächeln geworden wäre. Ein totgeborenes Lächeln.
Wenn die Igel in der Abendstunde still nach ihren Mäusen gehn.
Olga versucht einzustimmen, aber sie schafft es nicht. Dafür kann sie jetzt endlich weinen. Das ist gut. Ich gehe zu ihr und lege meinen Arm um sie.
Anna-Luise , summe ich.
Anna-Luise .
Wir sitzen in der Schleuse und warten auf den Zug. Bis jetzt hat sich Rahm nicht blicken lassen. Niemand von der SS.
Ein großer Saal. Die Fenster nicht vergittert. Man könnte hinausklettern, wenn es ein Ziel für eine Flucht gäbe.
Den Wänden entlang leere Regale. Manche Leute haben ihre Koffer hineingestellt. Von der restlichen Einrichtung ist auf dem Boden eine Straßenkarte aus Spuren übrig geblieben. Hier könnte einmal die Kleiderkammer gewesen sein. Das Gerätelager. Ein Aufbewahrungsort für Verbrauchsmaterial.
Passend.
Sie haben Bänke hineingestellt. Wir sitzen in langen Reihen da.Warten. Die tausend für den Transport Einbestellten. Und die Reserve. Jeder mit seiner Transportnummer um den Hals. Es wird wenig gesprochen. Es gibt nichts mehr zu sagen. Wer es trotzdem tut, flüstert. Wie bei einer Abdankung, wenn vorn der Sarg steht.
Im Theater kam mir jeder Stückschluss immer zu lang vor. Wenn man weiß, wie es ausgeht, sollte der Vorhang fallen.
Olga und ich haben mehr Platz als die meisten. Es will sich niemand neben uns setzen. Ich bin aussätzig geworden. Der Film hat mich aussätzig gemacht. Weil ich ihn gedreht habe, und die Transporte sind trotzdem wieder losgegangen. Die Leute sehen an mir vorbei. Wie damals im Zug nach Ellecom. Ich bin ihnen peinlich.
Otto Wallburg ist auch hier. Wir haben viel zusammen erlebt. Jetzt hat er sich weit von mir weggesetzt und tut, als ob er mich nicht kennen würde. Ich kann es ihm nicht übelnehmen. Ich möchte mich auch nicht
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