Gerron - Lewinsky, C: Gerron
kennen.
Wir wissen nicht, wie lang wir warten müssen. Am Nachmittag machte das Gerücht die Runde, es käme gar kein Zug mehr. Sie könnten nicht mehr fahren. Die Front sei schon zu nahe. Ich glaube nicht daran. Die Züge fahren immer.
Olga hat ihren Kopf an meine Schulter gelegt und die Augen geschlossen. Ich soll glauben, dass sie eingeschlafen ist. Sie will nicht mit mir reden müssen.
Direkt mir gegenüber sitzt ein alter Mann. Mit offenem, zahnlosem Mund. Er bewegt den Kopf hin und her, in einer ständigen hoffnungslosen Verneinung. Hin und her. Ich kann ein Gesicht sehen und mir sofort eine Geschichte dazu ausdenken. Aus einer simplen Körperhaltung einen ganzen Charakter ableiten. Das gehört zu meinem Beruf. Das gehört zu mir.
Dieser Mann: König Lear, fünfter Akt. Der alte Lear vor der Leiche Cordelias. Er hat die Schreckensnachricht bekommen und will sie nicht glauben. Darum schüttelt er den Kopf.
Oder aber: Er ist betrunken. Ein magerer, alt gewordener Falstaff. Sitzt in der Kneipe. Es wird musiziert, und den Takt spürt er in seinem Dusel. Deshalb bewegt er den Kopf hin und her.
Oder …
Vielleicht ist er gar nicht alt. Nicht älter als ich. Vielleicht hat ihm eine Krankheit die Falten ins Gesicht gezogen. Vielleicht hat ihn der Hunger so mager gemacht. Die Zähne sind ihm nicht ausgefallen, sondern es hat sie ihm einer ausgeschlagen. Nur so aus Spaß, weil er gerade einen Knüppel zur Hand hatte.
Egal.
Auch der falsche Rabbi ist hier. Mit seinem Leintuch um die Schultern. Seinem Gebetsschal. Der einzige mit glücklichem Gesicht. Vorhin hat er sogar getanzt. «Freut euch!», hat er gerufen. «Jubiliert! Bald werdet ihr bei Gott sein.» Näher mein Gott zu dir. Das haben sie auf der Titanic gespielt. Zuerst haben die Leute versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, aber jetzt, wo er angefangen hat zu beten, beten sie überall mit. In dieser Sprache, die sie für heilig halten, weil sie sie nicht verstehen. Ein paar schlagen sich an die Brust. Als ob sie selber schuld an dem wären, was man ihnen antut. Sie reden mit dem lieben Gott, den es nicht gibt. Ein Dialog ohne Partner.
Papa hätte sie ausgelacht. Ich beneide sie.
Heute ist der 28. Oktober 1944. Sein fünfundsiebzigster Geburtstag.
Dr. Springer hat mir angeboten, mich transportunfähig zu schreiben und in der Isolierstation zu verstecken. Wo die SS aus Angst vor Ansteckung nicht hingeht. Das sei aber nur für einen möglich, hat er gesagt. Bei einem Ehepaar würde es auffallen. Für Olga, so leid es ihm tue, wisse er keinen Rat. «Ich habe auch Hertha Ungar nicht retten können», hat er gesagt.
Ich habe mich bei ihm bedankt und das Angebot abgelehnt. Ohne Olga? Was hätte ich davon, hier zu bleiben?
«Wenn ich sonst etwas für Sie tun kann?», hat er gefragt. Ich habe verstanden, was er meinte, aber ich nehme kein Gift. Wenn sie mich umbringen wollen, müssen sie das schon selber erledigen.
Wir warten auf den Zug. Hoffen, dass er nie kommen wird, und sind trotzdem ungeduldig. Der Mensch ist ein seltsames Wesen.
Rahm ist doch noch in die Schleuse gekommen, aber er hat mich ignoriert. Wollte mich nicht kennen. Am Bahnsteig bin ich zu dem diensthabenden SS-Mann hingegangen und habe versucht, ihm zu erklären, dass es sich um einen Irrtum handeln muss. Dass ich noch gebraucht werde. Weil der Film nicht fertig ist. «Das Material muss noch geschnitten und vertont werden», habe ich zu ihm gesagt.
Er hat sich meine Einwände ganz ruhig angehört und dann in der Liste nachgesehen. Hat mir die beiden Namen gezeigt. Nummer 621: Kurt Gerson, genannt Gerron. Nummer 622: Olga Gerson. Neben meinem Namen war ein Stempel auf der Liste. Zwei Buchstaben: R.U. Rückkehr unerwünscht. «Der Herr Obersturmführer weiß schon, was er tut», hat er gesagt. Dann hat er mir das Knie in den Unterleib gerammt.
Auch wenn mich jetzt alle vorwurfsvoll ansehen: Ich bin nicht vor ihm gekniet. Ich habe ihn nicht angefleht. Er hat mich getreten. Ich bin umgefallen. Nichts Außergewöhnliches. Nichts, wofür ich mich schämen müsste.
Er hat Überraschung gespielt. «Tut dir das weh?», hat er gesagt. «Seltsam, wo du doch keine Eier hast.»
Als ich mich wieder bewegen konnte, bin ich in den Waggon geklettert. 8 Pferde oder 40 Mann. Wir sind mindestens sechzig. Man versucht, die Berührung mit dem Nebenmann zu vermeiden, so gut es geht. Ich weiß nicht, wie das werden soll, wenn der Zug einmal fährt.
Olga und ich hocken direkt neben der Wassertonne.
Weitere Kostenlose Bücher