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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Begehrte Plätze. Wir können uns anlehnen. Ich weiß nicht: Ist das ein letzter Überrest unserer Privilegien, oder haben uns die Leute Platz gemacht, weil ich ihnen ekelhaft bin? Weil ich es nicht geschafft habe, ein Held zu sein?
    Ich habe in unserem Waggon kein bekanntes Gesicht entdeckt und bin froh darüber. Der einzige, den ich erkannt habe, ist der alte Mann aus der Schleuse. König Lear. Falstaff. Er hat sich nicht hingesetzt, sondern liegt flach auf dem Boden. Vielleicht ist er tot.
    Egal.
    Friedemann Knobeloch hatte recht: Nur der erste Tote ist unvergesslich.
    Einmal, es muss in der Quarta gewesen sein oder in der Tertia, waren Kalle und ich auf dem Heimweg von der Schule, und da lag, mitten im Passantentrubel vor dem Bahnhof Tiergarten, eine Taube auf dem Boden. Es war ihr keine Verletzung anzusehen, aber sie rührte sich nur ganz schwach. Ließ sich ohne Widerstand in die Hand nehmen. Wir haben sie abwechselnd getragen, ich zehn Schritte und er zehn Schritte. Dann blieben wir jedes Mal stehen und übergaben den reglosen Körper an den anderen. Mit einer natürlichen Feierlichkeit, für die wir uns noch nicht einmal eine Geschichte ausdenken mussten. Durch die Federn hindurch konnte man das Pulsieren des kleinen Herzchens spüren. In meiner Erinnerung hat es einen menschlichen Rhythmus. Obwohl ich doch aus der vergleichenden Anatomie weiß, dass Vogelherzen viel schneller schlagen.
    In Kalles Zimmer haben wir die Krankenstation eingerichtet. Mama hätte etwas so Unsauberes wie einen kranken Vogel niemals in ihrer Wohnung geduldet. Ein Bett aus Zeitungsschnipseln in einem Schuhkarton. Der SALAMANDER -Schriftzug, mit dem ungewöhnlich geformten N, das aussah wie ein A, nur ohne Querstrich. Wir haben versucht, die Taube zu füttern. Haben schaudernd einen Regenwurm in schnabelgerechte Portionen geschnitten. Sie zeigte kein Interesse.
    Am nächsten Morgen lebte sie noch ein ganz kleines bisschen. Dann hörte sie endgültig auf, sich zu bewegen. Wir haben sie im Tiergarten begraben, und bestimmt habe ich eine Ansprache gehalten, als Pfarrer oder Rabbiner oder sonst etwas Bedeutendes. Davon weiß ich nichts mehr.
    Meine Erinnerung hört an der Stelle auf, wo wir uns endgültig eingestehen mussten, dass der Vogel tot war. Beim ersten Mal tut es noch weh .
    Später hat man sich mit dem Tod arrangiert. Wenn die Tragödien en suite gespielt werden, schaut man irgendwann nicht mehr hin.
    Vom Zugsende her nähert sich ein Geräusch, das ich noch aus meiner Militärzeit kenne. Eine Tür nach der anderen wird zugeschoben und rastet ein. Metall auf Metall.
    Als der Verrücktentransport von Westerbork abging – ich weiß nicht mehr, wer mir das damals erzählt hat –, als sie all die Geisteskranken verschickten, die sie aus ihren Heimen herausgeholt hatten, da war denen einfach nicht beizubringen, dass sie beim Schließen der Türen ihre Finger in acht nehmen sollten. Sie waren zu begeistert davon, dass sie eine Reise machen durften. Haben gewinkt und gelacht. Immer wieder hat man ihre Finger vom Türrahmen gelöst, und immer wieder haben sie sie hinausgestreckt. Bis man die Türen eben so zugeschlagen hat. Metall auf Metall.
    Es ist dunkel geworden im Waggon. Auch wenn nichts davon zu hören ist: Ich weiß, dass sie jetzt draußen eine Plombe anbringen. Damit uns keiner stiehlt.
    Olga hat die Augen fest zugedrückt. Sie will nicht mehr wach sein.
    Ich höre die Lokomotive pfeifen. Spüre das Rucken, als wir uns in Bewegung setzen.
    Wir fahren mit der Eisenbahn, Tschu-tschu-Eisenbahn, wir fahren mit der Eisenbahn, wer fährt mit?
     
    Draußen ist immer noch Tag, aber in den Waggon fällt kaum Licht. An der kleinen vergitterten Öffnung, weit oben, fahren senkrechte Linien vorbei, Bäume oder Strommasten, und dadurch scheint das Bild zu flimmern. Ein interessanter Effekt, denkt es in mir. Der Mechanismus in meinem Kopf lässt sich auch jetzt nicht abschalten.
    Wenn im Tonfilm jemand Eisenbahn fährt, rattern die Räder immer ganz gleichmäßig. RataTAT, rataTAT, rataTAT. Man kann Musik dazu komponieren.
    Hier, wo ich auf dem Fußboden sitze und jeden Schlag der Gleise im ganzen Körper spüre, lässt sich kein klarer Rhythmus heraushören. Weil hier im Protektorat – oder sind wir schon in Polen? –die Gleise nicht ordentlich verschweißt sind. Bei uns in Deutschland wäre das anders, denke ich. Bei uns in Deutschland . Eine gute Pointe.
    Ha ha ha.
    Unser 8/40er gehört der Reichsbahn. Der ganze Zug gehört der

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