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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Winkelfunktionen und lateinischen Vokabeln vollstopfte, hatte aufgehört zu existieren. Es hatte es bloß noch keiner gemerkt. Und so saßen wir ein paar Wochen später wieder brav in den alten Schulbänken. Oberprimaner jetzt. Die meisten in der Klasse rasierten sich schon. Äußerlich hatte sich wenig verändert. Nur auf dem Pausenplatz wurde jeden Tag die Fahne aufgezogen. Physik unterrichtete ein alter Herr, den man noch einmal aus dem Ruhestand geholt hatte. Dr. Bellingerwar Leutnant der Reserve und lag im Felde. Eine Formulierung, die uns nur so lang absurd erschien, bis wir dann am eigenen Leib erfuhren, wie schnell man sich an der Front den aufrechten Gang abgewöhnt. In Geschichte konnte man der drögen Datenpaukerei entgehen, indem man patriotische Fragen zum aktuellen Heeresbericht stellte. Im Deutschunterricht lernten wir keine Schillerschen Balladen mehr auswendig, sondern rezitierten andere Gedichte.
    Ich rezitierte. Ich war, ohne das Wort damals schon zu kennen, eine Rampensau. Solang ich nur vor Publikum dramatisch schmettern durfte, kam es mir auf den Text nicht an. Zur Strafe lässt mich mein verdammtes Gedächtnis die Worte bis heute nicht vergessen. «Hass zu Wasser und Hass zu Land, Hass des Hauptes und Hass der Hand, Hass der Hämmer und Hass der Kronen, drosselnder Hass von siebzig Millionen. Wir lieben vereint, wir hassen vereint, wir alle haben nur einen Feind …» Und dann die ganze Klasse im Chor: «England!» Mit solcher Scheiße konnte man sich damals den Roten Adlerorden verdienen.
    Während ringsumher ganz Europa dem Wahnsinn verfiel, spielten wir Schulalltag. Aber nicht mehr lang. Es kann nicht später als Oktober gewesen sein, als Dr. Kramm die Oberprima in die Aula bestellte. Unsere Klasse füllte noch nicht mal die ersten zwei Stuhlreihen, aber für die Bedeutung dessen, was er uns zu sagen hatte, schien ihm nur die ganz große Bühne angemessen.
    Er stellte sich vor uns hin, räusperte sich und strich sich den Bart. Machte tatsächlich diese Schmierentheatergeste, mit der Väterspieler an Hoftheatern schon vor hundert Jahren ihrem Publikum zu signalisieren pflegten: Achtung, jetzt wird’s bedeutend! Dann breitete er die Arme aus, als ob er uns segnen wolle, und sagte mit feierlicher Stimme: «Jungs!»
    Das allein hätte uns misstrauisch machen müssen. Aber wir hatten noch nicht genügend Lebenserfahrung, um zu wissen, dass Vorgesetzte immer dann zu vertraulichen Vokabeln greifen, wenn sie etwas Unangenehmes mit einem vorhaben. Wenn Oberleutnant Backes «Kameraden» sagte, wurden Freiwillige für ein Selbstmordkommando gesucht.
    «Jungs», sagte Dr. Kramm, «ich habe eine gute Nachricht für euch.»
    Die gute Nachricht bestand in dem Angebot, wir könnten unser Abitur vorzeitig machen. «In Anbetracht der großen Zeiten, in denen wir leben.» Zeiten . Plural. Unsere Epoche war so überlebensgroß, dass eine einfache Zeit nicht ausreichte.
    Schon in zwei Wochen, sagte Dr. Kramm, könnten wir uns das Abiturzeugnis verdient haben. Unter der Voraussetzung – er habe nicht den geringsten Zweifel, dass seine Jungs dieses Glück mit glühenden Herzen ersehnten –, unter der Voraussetzung, dass wir uns anschließend freiwillig zum Heeresdienst meldeten. In Anbetracht der großen Zeiten.
     
    Der Krieg hatte erst angefangen, und es fehlte ihnen schon an Fleisch für ihre Wurstmaschine. Die ersten Schlachten – Schlachten , was für ein ungewollt ehrliches Metzgerwort! – hatten mehr Menschenmaterial verbraucht als erwartet. Nachschub musste her. Weil sich die Freiwilligen nicht mehr wie in den ersten Kriegstagen zum Sterben drängten, erfand man für unsern Jahrgang das Notabitur. Auch so ein verräterisches Wort. In den offiziellen Verlautbarungen war von Not nie die Rede. Da siegten wir immer nur.
    Unser Klassenprimus, sonst von freundlicher Humorlosigkeit, erklärte uns das Wort so: «Ihr müsst es nicht auf der ersten Silbe betonen, Nótabitur, sondern auf der dritten: Notabítur. Weil es nämlich lateinisch ist. Vom Verb notare, kennzeichnen. Futur I, dritte Person, Indikativ passiv. Er wird gekennzeichnet werden. Und zwar womit? Mit einer Uniform.»
    Ihr Nachschrabsel als Soldat? Für meine Eltern war das undenkbar. Sie versuchten mit allen Mitteln, mir die Idee auszureden. Mama vergaß für einmal die weibliche Unterwürfigkeit, die man ihr im Pensionat beigebracht hatte, stemmte die Arme in die Hüften – eine Geste, die ich von ihr noch nie gesehen hatte – und erklärte:

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