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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Quinta. In Geographie mussten wir auf einer Europakarte diejenigen Gebiete einzeichnen, die Deutschland nach dem selbstverständlich siegreich beendeten Krieg annektieren sollte. Den Rest der obligatorischen Viertelstunde füllte der Experte aus, indem er Erinnerungen aus seiner eigenen Militärzeit zum besten gab. Er war, wie alle, ein Held gewesen.
    Und so in sämtlichen Fächern. Man hätte auf die Prüfung ganz verzichten und uns das Abiturzeugnis gleich mit dem Direktionsdiener nach Hause schicken können. Aber das Ritual musste durchgespielt werden. Eine Klasse von Siebzehnjährigen in den Krieg zu schicken, sie für Kaiser und Vaterland in die Wurstmaschine zu stopfen, das war in Ordnung. Aber nur, solang die Formen dabei nicht verletzt wurden.
    Ich habe das später noch oft erlebt. Der Leutnant, der auf seiner Tragbahre korrekt gegrüßt werden wollte, dabei hingen ihm unten schon die Gedärme aus dem Bauch. Aus der Fünten, der hinter der Bühne rücksichtsvoll auf Zehenspitzen ging, bevor er das ganze Theater beschlagnahmte. Die Premieren hier in Theresienstadt, mit ihrem traditionellen Über-die-Schulter-Spucken und Toi-toi-toi, als ob uns weit und breit nichts Schlimmeres drohte als eine verpatzte Aufführung. Solang die Formen eingehalten werden, das reden wir uns immer wieder ein, ist die Welt nicht ganz aus den Fugen.
    Wir bestanden alle. Sogar Kalle, der mit Lachen nicht mehr aufhören konnte. Ich weiß nicht, ob man ihn aus Mitleid hat durchkommen lassen, aus Patriotismus, oder weil es sich auf der Liste unseres Oberstudiendirektors so gut machte: «Notabitur 1914, hundert Prozent bestanden, hundert Prozent freiwillig zum Heeresdienst gemeldet.» Mit dem Nachtrag, vier Jahre später: «Sechzig Prozent verwundet oder gefallen.»
    Auch meine Eltern konnten sich von den althergebrachten Formen nicht so schnell lösen. Ein bestandenes Abitur, so verlangte es die Tradition, musste gefeiert werden. Also feierten wir, obwohl keinem von uns nach Festlichkeit zumute war. Am Abend nach der ansprachenreichen Verleihung der Zeugnisse spendierte Papa ein Essen bei Horcher an der Lutherstraße. Am selben Tisch, seltsamerweise, an dem mir Jahre später Max Reinhardt die Rolle in PHÄA anbot. Wir bestellten den berühmten Faisan de presse und tranken einen teuren badischen Wein.
    Warum weiß ich noch, dass er badisch war? Warum merkt man sich ein so unwichtiges Detail?
    Dabei tranken wir den teuren Wein gar nicht. Das meiste ließen wir stehen. Mama heulte den ganzen Abend, und Papa versuchte so zu tun, als ob er es nicht bemerke. Er hatte mir eine goldene Taschenuhr gekauft. Die ich nie getragen habe. Ins Militär konnte ich sie nicht mitnehmen, und hinterher kam sie mir zu protzig vor. Sie lag all die Jahre in Seidenpapier eingewickelt in einer Schublade an der Klopstockstraße, und als wir Berlin verließen, haben wir sie in der Eile vergessen. Wahrscheinlich liest jetzt Heitzendorff davon die Zeit ab.
    So war das mit meinem Abitur. Die Piccolomini , der pythagoräische Lehrsatz, und schon war ich bereit für die Wurstmaschine.
     
    Jüterbog, wo man mich zum Soldaten umbaute. Es lohnt nicht, sich daran zu erinnern.
    Die übliche Piesackerei. Unteroffiziere, die es ein Leben lang nicht weitergebracht hatten als bis zum Adlerknopf am Kragen, und die uns das entgelten ließen. Kaputtgebrüllte Stimmen.
    Eine neue Sprache mit neuen Worten. Kleiderkammer. Küchenbulle. Nahkampfmittelübungsplatz. Marschgepäck, Arschgepäck, Widerspruch hat keinen Zweck. Eine neue Grammatik. Bitte Herrn Leutnant, Meldung machen zu dürfen.
    Überhaupt, die ganzen Rangunterschiede. Über uns diese unendliche Pyramide, bis hinauf zum Feldmarschall, und unter uns garnichts. Wir waren noch nicht einmal Menschen, wurde uns jeden Tag erklärt, man musste erst welche aus uns machen.
    «Eines Tags werdet ihr dafür dankbar sein», sagten sie und ließen uns durch den Schlamm robben.
    Der Pfahl mit der Offiziersmütze, vor der wir das Salutieren übten. «Ei, Vater, sieh den Hut dort auf der Stange», zitierte einer und wurde wegen Klugscheißerei zu einer Runde Froschhüpfen verdonnert. Man verschwieg besser, dass man Abitur hatte.
    Die Uniform, die an mir schlotterte, weil ich so dünn war. Die Sprüche, die ich mir deshalb anhören musste. «Du wärst besser Bohnenstange geworden als Soldat, Gerson. Aber für einen so anspruchsvollen Beruf fehlt dir die Intelljenz.»
    Diese abgehackte Sprechweise, die zackig sein sollte und nur lächerlich

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