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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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«Wenn du ihm das nicht ausredest, Max, bist du ein ganz schlechter Vater.» Papa musste sich logisch ganz schön verrenken,um die Sorge um mich mit seinem neu entdeckten Patriotismus in Einklang zu bringen. «Du bist noch zu jung», argumentierte er. «Warte wenigstens, bis du achtzehn bist.» Als ob die Anzahl der Geburtstage einen mehr oder weniger dazu befähigte, einen Granatsplitter in den Bauch zu bekommen. In einer logischen Welt würde man überhaupt nur Kinder in den Krieg schicken. Sie geben kleinere Zielflächen ab.
    In den Familien meiner Mitschüler wurde dieselbe Debatte geführt. Auch dort, wo mit der Kriegserklärung der Patriotismus in seiner virulentesten Form ausgebrochen war. Ganz egal, wie begeistert jemand «Hurra!» brüllt – der Opfermut lässt sehr schnell nach, wenn es an die eigenen Söhne geht. Die lautesten Schreier, so habe ich es dann im Feld erlebt, sitzen gern auf den sichersten Druckposten.
    Am Schluss erklärten wir alle unsere Bereitschaft, dem Vaterland mit Mut und Blut zu dienen. In einstimmiger, idiotischer Freiwilligkeit. Wir hatten fast sieben Jahre an einem Gymnasium verbracht und waren damit laut Dr. Kramm «die geistige Elite der deutschen Jugend», aber vom Krieg hatten wir eine ganz kindische Zinnsoldatenvorstellung. Wehende Fahnen und schmetternde Trompeten. Ich hatt einen Kameraden und der Hohenfriedberger Marsch . Außerdem – damit kann man fast alles erklären, was seither in Deutschland geschehen ist –, außerdem wollte keiner der einzige sein, der nicht mitmachte.
    Mit einer Ausnahme. Kalle mit seiner kranken Lunge kam für den Ehrendienst im grauen Rock ebenso wenig in Frage wie mit seinen schwachen schulischen Leistungen für das Abitur, Not hin oder her. Für uns andere in der Klasse war das ganz selbstverständlich, aber Dr. Kramm, der Listenreiche, sah die perfekte Statistik gefährdet, von der er sich einen positiven Eintrag in seiner Personalakte und vielleicht sogar einen Orden versprach. «Melde dich ruhig», redete er auf Kalle ein. «Man wird den guten Willen anerkennen, auch wenn du natürlich nicht tauglich bist.»
    Das mit der Tauglichkeit kann sich nur ein kranker Kopf ausgedacht haben. Welcher Metzger stopft schon immer nur das besteFleisch in seine Wurstmaschine? Als ob man nicht auch mit Plattfüßen auf eine Mine treten könnte.
    Die perverseste Form von Tauglichkeitsprüfung habe ich in der Krankenstation von Westerbork erlebt. Bis vierzig Grad Fieber konnte man für einen Transport eingeteilt werden. Ab vierzig Komma eins war man für dieses Privileg nicht mehr tauglich.
    Kalle meldete sich also freiwillig zum Heeresdienst. Was er selber am komischsten fand. Als jemand sagte: «Der hustet ganz allein eine feindliche Kompanie in die Flucht», lachte und hustete er so heftig, als wollte er den Beweis für den schlechten Witz antreten.
    Sie haben ihn tatsächlich genommen. Nicht für den Dienst mit der Waffe, so anspruchsvoll waren sie denn doch, aber es gab ja auch noch rückwärtige Dienste. Kalle wurde einer Feldküche zugeteilt. Und lachte sich über die Vorstellung schief, dass er mit einer Gulaschkanone auf die Franzosen schießen sollte.
    Aber so weit war es noch nicht. Zuerst einmal kam unser Notabitur.
     
    Die Prüfung war ein Witz. Ein augenzwinkerndes Ritual, das niemand ernstnahm. Als ob der Papst, statt feierlich den Messwein zu kredenzen, seine Gemeinde kumpelhaft zu einem Umtrunk einladen würde.
    Wir alle, Prüfer und Geprüfte, steckten unter einer Decke. Den Schrecken des gefürchteten Abituraufsatzes entschärfte unser Deutschlehrer schon im Vorfeld, indem er salbaderte, das Thema sei zwar streng geheim, und er könne es uns selbstverständlich auf gar keinen Fall verraten, aber wir würden es schon schaffen, da sei er guten Mutes und wir, das sehe er unseren Gesichtern an, doch sicher auch. Und dann, überdeutlich und im Stil eines Intriganten von der Laienbühne: «Daran erkenn ich meine Pappenheimer.» Zweimal wiederholt: «Pappenheimer!» Worauf wir alle nach Hause liefen und den Wallenstein noch einmal lasen.
    Es wäre nicht nötig gewesen. Das Thema hieß: ‹In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne› – kommentieren Sie! , und für einegute Note reichte es völlig aus, den Satz auf uns selber als zukünftige Kriegsteilnehmer zu beziehen und ein paar Seiten mit heldischem Geraune zu füllen.
    In der mündlichen Mathematikprüfung fragte man mich allen Ernstes nach dem pythagoreischen Lehrsatz. Stoff aus der

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