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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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war.
    Der graue Waffenrock mit den Nickelknöpfen. Ein beliebter Scherz bei Neulingen bestand darin, dass man sie die Knöpfe mit der eingeprägten Krone auf Hochglanz polieren ließ, «dass sie glänzen wie ein eingeölter Kinderpopo». Die Knöpfe waren mit Sandstrahl mattiert, und alles Reiben konnte sie nicht zum Glänzen bringen. Ha ha ha.
    Der Ersatzhelm aus gepresstem Filz, weil sie mit der Lieferung der Lederhelme nicht nachkamen.
    Unsere kahlgeschorenen Schädel, wie am ersten Schultag im Gymnasium.
    Das Ganze überhaupt wie die bösartige Karikatur einer Schule. Als wir uns an der Penne einmal bei unserem Geschichtslehrer beschwerten, weil wir für eine Prüfung zu viele Daten büffeln sollten, war seine Antwort: «Der Lehrplan muss abgearbeitet werden. Ohne Rücksicht auf Verluste.» Genau so machten sie es in Jüterbog. Mit der Wirklichkeit des Krieges hatte das Ausbildungsprogramm nichts zu tun. Aber sie arbeiteten es ab. Ohne Rücksicht auf Verluste.
    Wir lernten marschieren. Übten jeden Tag in den verschiedensten Formationen. Nahmen ein Gewehr hundertmal auseinander und setzten es wieder zusammen. Als wir es blind konnten, wurden dieGewehre eingesammelt, für die nächste Ladung Frischfleisch, und wir bekamen, kurz bevor wir an die Front verladen wurden, ein ganz anderes Modell. Das Gewehr 98, mit dem wir in den Krieg zogen, war ihnen zum Üben zu schade gewesen. Einmal wurden wir zu einem Vortrag befohlen, und ein alter Major dozierte das korrekte Verhalten, wenn man von Ulanen mit Lanzen angegriffen wird.
    Von den Dingen, die man wirklich hätte brauchen können, kein Wort. Wie man sich mit dem Feldspaten in nasse Erde wühlt. Dass es einen nicht stören darf, wenn man dabei auf eine Leiche stößt. Warum man einem Menschen mit Bauchschuss nichts zu trinken geben soll. Wie man Läuse knackt. Kein Wort davon.
    Dafür tausend Vorschriften, die blind zu befolgen waren. Wie der Mantel zusammenzulegen war. Über welcher Schulter der Brotbeutel zu hängen hatte. Und natürlich war es kriegsentscheidend, dass die Faltkante der Wolldecke exakt parallel zur Bettkante lag.
    Pritschen. Immer zwei übereinander. Eines der wenigen nützlichen Dinge, die ich in Jüterbog gelernt habe: Man soll sich, wenn immer möglich, die untere Etage sichern.
    In einem Raum mit hundert anderen zu schlafen, wo immer einer schnarchte oder furzte, das war fast das Schlimmste für mich. Als Einzelkind war ich so viel fremde Nähe nicht gewohnt.
    Und dann natürlich die Weibergeschichten, die im Dunkeln erzählt wurden. Die schweinischen Witze. Man wollte sie nicht hören, und sie erregten einen doch. Wir Gymnasiasten konnten lateinische Verben konjugieren, aber von Frauen hatten wir keine Ahnung. Nicht wie die Rekruten vom Land, die wussten Bescheid. Oder taten zumindest so. Frau Wirtin hatte einen Koch, der fickte sie in jedes Loch.
    Es lohnt nicht, sich daran zu erinnern.
     
    Doch, es lohnt.
    Ohne den Feldwebel Knobeloch wären wir nicht hingegangen. Wir hätten uns nicht getraut. Bestimmt nicht wir wohlerzogenen Stadtbübchen. Wir hätten nur immer weiter davon geflüstert, undspäter einmal – vielleicht auf der Latrine, wo man sich nicht ins Gesicht schauen muss – hätten wir behauptet: «Ja, klar war ich auch schon dort. Ist nichts Besonderes.»
    Es war aber etwas Besonderes. Ein zentraler Bestandteil jener verheißenen und angedrohten Mannwerdung, um die sich in Jüterbog alles drehte. Das Grüßen hatten wir gelernt, das Schießen und das Marschieren. Hatten Handgranaten geworfen oder doch zumindest Attrappen. Man hatte uns beigebracht, wie man Stacheldraht abrollt. Sogar die zwanzig Kilometer in voller Feldmarschausrüstung hatten wir überlebt. Jetzt fehlte nur noch das Eine. Und dafür sorgte Knobeloch.
    Feldwebel Friedemann Knobeloch. Es hätte den barocken Friedemann nicht gebraucht und auch nicht das seltsame E in der Mitte des Knoblochs. Ich hätte seinen Namen auch so nicht vergessen. Wegen dieser einen Nacht.
    Knobeloch. Ein Relikt. Einer von der ganz alten Schule. Schon ewig dabei. War noch mit der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika gewesen und hatte es, ich weiß nicht wie, geschafft, sich in all den Jahren eine romantische Vorstellung von Kameradschaft und Männerbündelei zu bewahren. Von uns, die er zwölf Wochen lang über den Übungsplatz zu jagen hatte, wollte er geliebt werden und konnte nie verstehen, warum seine so aufdringlich angebotene Freundschaft – «Ihr könnt mich ruhig Spieß nennen,

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