Gerron - Lewinsky, C: Gerron
die überwintert hatten.
Ich selber habe die Jagdgesellschaft mit den hohen Offizieren nie zu Gesicht bekommen. Aber auf Latrinen verbreiten sich Gerüchte noch schneller als der Gestank. Man wusste immer, wo die Herren gerade waren. Direkt vor Langemarck schienen sie gefunden zu haben, was sie suchten.
Die Pioniere in den sauberen Uniformen entluden die geheimnisvollen Güterwaggons. Schleppten Kisten in die Gräben. Eine ganze Nacht lang waren sie dort zugange. Wir malten uns mit viel Vergnügen aus, wie diese Salonsoldaten dort vergeblich auf ein Federbett und einen Gutenachtkuss warteten.
Am nächsten Tag wurde Schnaps ausgegeben. Doppelte Portionen. Ein schlechtes Zeichen. «Wenn es Schnaps gibt, gibt es Tote», hieß die Erfahrungsregel. Alarmbereitschaft wurde befohlen, aber dann passierte erst mal stundenlang gar nichts. Etwas war noch nicht, wie sie es brauchten.
Der Wind, natürlich. Daran haben wir damals nicht gedacht.
Am späten Nachmittag konnte man merken, dass sich etwas tat. Die Meldeläufer schwärmten in alle Richtungen aus. Pünktlich um fünf Uhr warf ein Flieger drei rote Leuchtfackeln ab. Das war das Signal.
Der Wind kam von Osten. Das Gelände war flach. Die gelbe Wolke rollte auf die französischen Linien zu.
Chlorgas verätzt die Bronchien. Die Lungen füllen sich mit Wasser. Laryngospasmus. Hypoxie. Exitus letalis . Wer es einatmet, erstickt. Ertrinkt auf trockenem Boden. Blaue Lippen vom Sauerstoffmangel im Blut. Die meisten Leichen, an denen wir vorbeikamen, lagen auf dem Rücken. Hatten die Fäuste geballt. Boxer, die noch einen allerletzten Schlag anbringen wollen.
Die wenigen, in denen noch ein Rest Leben war, versuchten wegzukriechen. Weg von der tödlichen Wolke, die doch schon lang weitergezogen war.
Es waren hauptsächlich Algerier. Spahis, die als besonders grausam galten. Mit ihren verzerrten Gesichtszügen sahen sie so fremdländisch aus, wie man sie uns geschildert hatte.
Wir waren für diesen Tag zur 51. Reservedivision detachiert, deren Stellung direkt an die unsere anschloss. Die doppelte Schnapsration hatte den Sturmangriff korrekt vorausgesagt. Nur dass es dann gar kein Sturm wurde, sondern eine Promenade. Ein Spaziergang durch einen Friedhof. Zumindest am Anfang.
Man hatte noch keine Gasmasken. «Solang ihr nur immer hinter der Wolke bleibt», hatte man uns versprochen, «kann euch nichts passieren.» Nach dem ersten Graben voller Leichen wollten nicht mehr alle an die Ungefährlichkeit unseres Vormarschs glauben, aber die Offiziere trieben auch diese Ungläubigen weiter.
Wir rückten also vor, und es war alles ganz anders als bei andern Angriffen. Vor allem: Es war still. Natürlich, der Generalbass der Artillerie donnerte die ganze Zeit über unsere Köpfe hinweg, aber die Melodiestimmen fehlten. Keine Gewehrschüsse. Keine ratternden Maschinengewehre. Keine explodierenden Handgranaten.
Überhaupt kein Widerstand.
Wie in einem Traum, wo man ja auch die unnatürlichsten Dinge tut und sie ganz selbstverständlich findet. Vor einem Verhau blieb man einfach stehen, aufrecht, und wartete auf die Leute mit den Drahtscheren, damit sie einem einen Durchgang öffneten. Die Granattrichter, in die man sich sonst hineinkrallte, um für ein paar Sekunden Deckung zu haben, umging man. Wie man auf dem Gehsteig einem Tümpel ausweicht, um sich die Schuhe nicht zu versauen. Niemand schrie vor Schmerzen, und niemand, um sich Mut zu machen. Schweigend bahnten wir uns den Weg durch die französische Stellung.
Einmal brach Panik aus, nur kurz. Weil aus einem Unterstand Rauch aufstieg. Einen Moment lang sah es so aus, als habe der Wind gedreht, und die gelbe Wolke treibe jetzt auf uns zu. Aber es war nur ein kleines Feuerchen. Einer der Algerier hatte beim Ersticken seine Tabakspfeife fallen lassen, und sie hatte ihm die Uniform in Brand gesteckt.
So haben wir dann auch Langemarck erobert. Was die gefeierten Helden von 1914 mit all ihren patriotischen Gesängen nicht geschafft hatten – wenn sie denn tatsächlich gesungen haben sollten –, das gelang der deutschen Wissenschaft mit ein paar Tonnen verflüssigten Chlors. Sie öffneten im richtigen Moment die richtigen Ventile und überließen den Rest den Naturgesetzen.
Wir sind durch Langemarck nur durchmarschiert. Es war niemand mehr da, den wir hätten bekämpfen müssen. Ich habe dort seltsame Dinge gesehen. Einen Mann, an eine Hauswand gelehnt, der mit gekreuzten Beinen vor einem Korb mit Handgranaten saß. Wie eine
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