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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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erfuhr, dass das bei ihm nichts Außergewöhnliches gewesen war.
    Nur die Chlorgasvergiftung war außergewöhnlich gewesen.
    Eine kleine vom Wind verwehte Schwade hatte Kalle erwischt. Sehr verdünnt schon, und eigentlich nicht mehr gefährlich. Alle anderen in seiner Nähe hatten nur ein bisschen gehustet. Aber für Kalles geschwächte Lungen war schon diese kleine Dosis zu viel gewesen. Man hatte ihn mit Erstickungsanfällen zur Sanität gebracht, aber nichts für ihn tun können. Man war hier nur auf Schussverletzungen und Amputationen eingerichtet. Drei Tage hatte er nach Luft gerungen. Hatte pausenlos gehustet und pausenlos gelacht. «Er konnte sich gar nicht darüber beruhigen, dass er jetzt ein Kriegsheld sein sollte», sagte der Medizinstudent. «Er schien die Vorstellung ungeheuer komisch zu finden. Verstehen Sie das?»
    Ja, ich verstand das.
    Wie hatte Oberstudiendirektor Kramm bei der Abiturfeier gesagt? «Es hat sich schon mal einer totgelacht.»
     
    Vierzehn Jahre später, im März 1929, lernte ich den Mann kennen, der Kalle umgebracht hat. Er trug einen Frack und machte mir Komplimente. Schon zweimal habe er sich die Dreigroschenoper angesehen, richtig begeistert sei er davon, und ganz besonders von mir. Wie schön, dass er mich jetzt auch einmal persönlich treffe, es sei ihm eine Ehre, aber jetzt müsse ich ihn entschuldigen, die gesellschaftlichen Verpflichtungen, ein so prominenter Schauspieler wie ich müsse ja wissen, wie das sei. «Auf ein anderes Mal, mein lieber Gerron, auf ein anderes Mal!» Rückte seinen Zwicker zurecht und steuerte auf Heinrich George zu, der in dieser Nacht die Titelrolle spielte.
    Das war bei der Nachtvorstellung des Marquis von Keith , die wir auf die Beine gestellt hatten, um für die Witwe von Albert Steinrück Geld zu sammeln. Sechzig Mark kostete ein Platz im Parkett, mitten in der Wirtschaftskrise. Aber wenn man in Berlin etwas geltenwollte, musste man sich das leisten. Dafür stand auch nur Prominenz auf der Bühne, selbst in den kleinsten Rollen. Für die Massary hatten sie ein stummes Dienstmädchen eingebaut. Sie kriegte fürs Tischdecken mehr Applaus als ein ganzes Ensemble für beide Teile Faust . Ich selber hatte genau einen Satz, als einer von drei Packträgern im letzten Akt. Die andern waren der Forster und der Harlan. Damals teilten wir uns eine Garderobe. Ein paar Jahre später hätte mich der Harlan, dieser Edelnazi, nicht mal mehr mit der Feuerzange angefasst.
    Es war in der großen Gesellschaftspause nach dem dritten Akt, wo die Zuschauer mit uns Künstlern ihren wohltätigen Champagner trinken durften. Olga war mitgekommen. Sie sammelte damals Prominenz, so wie ich als Junge Zigarettenbildchen. Hakte ab, wen sie getroffen hatte. An diesem Abend – oder, genauer, in dieser Nacht; es war schon ein Uhr früh – machte ihre Kollektion gute Fortschritte. Der Reichtagspräsident war da. Der Kulturminister. Max Liebermann und Bruno Walter. Sogar den Einstein hatten sie überredet, im Ehrenausschuss mitzumachen. Er sah nicht sehr begeistert aus.
    Und eben: der Mann mit dem Zwicker. Er hatte sich mir nicht vorgestellt. In seinen Kreisen ging man davon aus, dass man wusste, mit wem man es zu tun hatte. Mir war er fremd gewesen, aber Olga las die Illustrierten und hatte ihn erkannt. «Professor Haber», sagte sie. «Vom Kaiser-Wilhelm-Institut.»
    Fritz Haber. Der Mann, der auf den brillanten Einfall gekommen war, Chlorgas als Waffe einzusetzen. Nach dem Krieg war ich nicht mehr so unbedarft wie damals als Soldat. Ich wusste unterdessen, wer der unmilitärische Hauptmann mit dem Zwicker gewesen war.
    Es gab dann einen ziemlichen Skandal. Ich bin hinter ihm hergelaufen, habe ihn an der Schulter gepackt und herumgerissen. «Herr Professor», habe ich gesagt, «wissen Sie, dass Sie ein Mörder sind? Ein tausendfacher Mörder?»
    Von den Spahis mit den blauen Lippen habe ich ihm erzählt, wie man sie auf ihre Karren geschmissen hat, einer an den Beinen, einer an den Händen und hopp. Von dem Mann, den es beim Scheißen erwischteund von dem andern, der immer noch seine Handgranaten zählte.
    Und von Kalle.
    «Wer sich so etwas hat einfallen lassen», habe ich zu ihm gesagt, «der kann sich alle seine Orden in den Arsch stecken, und den Nobelpreis hinterher. Wer auf so etwas auch noch stolz ist», habe ich gesagt, «der muss ein krankes Hirn haben. Von solchem Verbrecher brauche ich keine Komplimente.»
    «Ihre Frau», habe ich zu ihm gesagt, «war sehr viel

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