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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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vernünftiger als Sie. Die hat sich damals erschossen, als sie von dem Giftgasangriff gehört hat. Mit der Dienstpistole, die zu Ihrer schönen Hauptmannsuniform gehörte. Hat Ihnen das nicht zu denken gegeben, Herr Professor?»
    Sie haben mich von ihm weggerissen, und einer hat den Zwicker aufgehoben, der ihm von der Nase gefallen war. Geohrfeigt habe ich ihn nicht, aber sie haben mich auch nicht zum Schweigen gebracht. Ich habe ihm gesagt, was ich von ihm hielt. Die ganze bessere Gesellschaft von Berlin hat es gehört.
    Der Haber ist abgezottelt wie ein begossener Pudel, und die Leute sind meinem Blick ausgewichen, peinlich berührt. Nur ein paar wenige haben mir zugenickt. Der Einstein hat mir sogar auf die Schulter geklopft.
    Dass ich mir gerade meine Karriere ruiniert hatte, vor allem bei der Ufa, wo der Hugenberg regierte, dass ich mich unmöglich gemacht hatte für alle Zeiten, das war mir scheißegal.
     
    Aber so war es nicht.
     
    So war es:
    Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich realisierte, wem ich da gerade die Hand geschüttelt hatte. Da war der Moment schon vorbei. Der Zufall hatte mir das Stichwort zu einem großen Monolog geliefert, und ich hatte nicht darauf reagiert. Jetzt war es zu spät.Die Vorstellung wird nicht angehalten, bloß weil du einen Hänger hast.
    Ich sah ihn bei Heinrich George stehen. Wahrscheinlich machte er ihm dieselben Komplimente, die er gerade mir gemacht hatte. Er war nichts Besonderes. Ein dicklicher Mann mit Vollglatze. Den ich vielleicht als Käsehändler, aber niemals als Wissenschaftler besetzt haben würde.
    Der falsche Moment und das falsche Stück. Die falschen Kostüme. Er trug Frack, ich trug Frack. Um uns herum pafften specknackige Herren dicke Zigarren. Ihre Damen ließen die Brillanten glitzern, während sie sich gegenseitig versicherten, dass der ganze Anlass phänomenal sei, «ich weiß kein anderes Wort dafür, meine Liebe, phä-no-me-nal».
    Der falsche Schauplatz für eine weltanschauliche Auseinandersetzung. Das falsche Bühnenbild.
    Wir waren nicht in Flandern, sondern in Berlin, nicht an der Front, sondern im Foyer des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. Ein Kellner schenkte Champagner nach, und Olga stand neben mir und hatte zwei leibhaftige Nobelpreisträger für ihre Prominentenliste eingesammelt.
    Ich schaute Fritz Haber hinterher. Und tat gar nichts.
    Es hätte nichts gebracht, redete ich mir ein. Es hätte niemandem etwas genützt, wenn ich mich an einem solchen gesellschaftlichen Anlass mit dem Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts geprügelt hätte. Lächerlich wäre es gewesen. Die Leute hätten gedacht, ich sei betrunken.
    Aber das war nicht der Grund, warum ich geschwiegen habe. Nicht der wirkliche Grund. Es hatte auch nichts mit Feigheit zu tun.
    Der wirkliche Grund war: In dem Moment, wo einen die Empörung gepackt hat, wenn es sich anfühlt, als ob das Blut in den Adern heißer würde, in dem Moment kann man sich nicht vorstellen, dass es sich jemals wieder abkühlt. Aber genau das passiert. Wenn mir Haber damals begegnet wäre, direkt nach der Nachricht von Kalles Tod, dann hätte ich ihm …
    Vielleicht auch nicht. Vielleicht wären die anerzogenen Reflexe stärker gewesen. Ich hätte vor seiner Hauptmannsuniform Männchen gebaut und artig gegrüßt. Ich weiß es nicht.
    Ich weiß nur, dass ich in dieser Nacht weiter Champagner trank und höfliche Konversation machte. «Ja, Herr Kommerzienrat, das Extempore von der Bergner war goldig. Einfach goldig.» Sie spielte den Hausdiener – sie hatte schon immer ein Faible für Hosenrollen –, und als die Massary den Tisch deckte, sagte sie: «Das Trampel fliegt!» Die Leute hatten gejubelt, dass der Kronleuchter beinahe runtergekommen wäre. Einfach goldig.
    Wenn ich ein bisschen mehr der Kurt Gerron gewesen wäre, zu dem ich mich in meiner Phantasie gern uminszeniere, dann hätte ich mir den Haber zur Brust genommen, Champagner hin, Gendarmenmarkt her. Aber die Erbitterung von 1915 war schon zu sehr zur Gewohnheit geworden. Ich spürte sie noch, aber sie trieb mich nicht mehr an.
    So ist es nun mal: Man gewöhnt sich an alles.
    So wie wir uns daran gewöhnt haben, nur noch von Woche zu Woche zu leben. Von Tag zu Tag. Gut, dass wir alle keine Uhren haben.
    Man gewöhnt sich an alles.
    «Es war schlimm», wird man irgendwann sagen, wenn man an uns denkt, aber es wird keine lebendige Empörung mehr sein, nur noch die Erinnerung daran.
    «Den Gerron hat es auch erwischt», wird man sagen,

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