Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Schauspielern wird das immer als Geschäftemacher-Geste verwendet, aber das ist es überhaupt nicht. Man reibt die Hände, weil man friert, weil man sich unwohl fühlt, weil man sie in Unschuld waschen will. Die Situation ist unangenehm, heißt diese Geste, aber ich persönlich kann nichts dafür. Dr. Rosenblum ist so dagestanden, als Großpapa von ihm wissen wollte, wie lang er noch zu leben habe, «ohne Umschweife, bitte, Herr Doktor, ich habe keine Zeit mehr für langes Drumrumreden». Er hat sich gewunden, der Dr. Rosenblum, hat erst mal gehüstelt, nicht weil er heiser war, sondern weil er die Antwort noch einmal hinauszögern wollte, und dann hat er mit ganz leiser Stimme die Wahrheit gesagt.
Großpapa hat gelächelt, als ob die schlechte Nachricht eine gute wäre, und hat gesagt: «Vielen Dank, Herr Doktor.»
So kann es auch sein.
Man kann dem andern das Unheil ins Ohr flüstern. Oder ein Megaphon nehmen und es hinausposaunen: «Achtung, Achtung, eine Sturmflut, ein Vulkan, ein Meteor.»
In der Armee schrieben sie bei Todesnachrichten Briefe. Nach exaktem Reglement. In jedem Bataillonsstab saß ein Alemann, der kriegte den Namen des Gefallenen auf den Tisch, und dann verfasste er ein hübsches Gesülze für die Hinterbliebenen.
Nur wie man jemandem sagt, dass er für den Rest seines Lebens ein Krüppel sein wird, dafür hatten sie keine Dienstvorschrift. Haben sich darauf verlassen, dass man es schon selber merkt. Wenn du auf ein blutiges Leintuch starrst, und unterhalb deiner Knie klebt es flach an der Matratze, dann weißt du auch ohne medizinische Kenntnisse, dass du nie mehr Fußball spielen wirst. Wenn sie dir den Verband von den Augen abnehmen, und du siehst immer noch nichts. Da brauchst du keinen, der dir sagt, was mit dir los ist.
Er hatte sich fürs Lächeln entschieden, der Herr Stabsarzt. Genauer: Sein Mund lächelte. Die Augen waren schon wieder beim nächsten Bett. «Sie haben Glück gehabt», sagte er. «Es hätte auch den Bauch treffen können.»
Hätte können. Wäre gewesen. Würde sein.
Glück ist ein verdammt relativer Begriff.
Ich, der Soldat Kurt Gerson, hatte Glück gehabt. Das große Los gezogen: einen echten, unzweifelhaften Heimatschuss. Zwar stand meine Verletzung nicht ausdrücklich in der Liste, die wir alle memoriert hatten – über solche Sachen sprach man nicht, wie ich auch selber ein Leben lang nicht darüber gesprochen habe –, aber meine Dienstzeit war beendet. Daran gab es nie den geringsten Zweifel. Ehrenhaft entlassen. Mit dem Dank des Vaterlands. Ein echter, staatlich approbierter Held. Von Kopf bis Fuß mit Ruhm bekleckert. Er lebe hoch, hoch, hoch.
Die Papiere waren schon lang vollständig. Alles dabei. Samt einer Liste der Eisenbahngesellschaften, die mir freie Fahrt nach Hause zu gewähren hatten. In der Rubrik Benötigt ... Krücken hatte jemand mit grüner Tinte sorgfältig ein K in die dafür vorgesehene Lücke eingesetzt. Benötigt keine Krücken. Hat Glück gehabt.
Es war alles erledigt und vorbereitet. Ich musste nur einsteigen.Und blieb doch noch im Lazarett. Mehr als einen Monat lang. Aus Angst.
Aus Lampenfieber.
Ich hatte eine neue Rolle zugeteilt bekommen, einen Tag vor meinem Achtzehnten. Kurt Gerson sollte ich spielen. Einen ganz normalen jungen Mann, der aus dem Krieg zurückkommt. Und es durfte niemand merken, dass es nur eine Rolle war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das gestalten sollte. Die Normalität und den Mann. Solang ich noch nicht zu Hause war, konnte ich üben. Probieren. Vor einem Publikum, auf das es nicht ankam. Wie alle Anfänger habe ich meinen Part erst mal fürchterlich überspielt.
Ich wusste, wie ich nicht sein wollte. Nicht so, wie Papa mich in seinen Briefen bereits besetzt hatte, wo ich jetzt nicht mehr sein Nachschrabsel war, sondern sein Heldensohn . Ich war ja nicht heldisch gewesen. Es hatte mich erwischt. Pech gehabt. Oder Glück. Je nachdem, wie man es ansah.
Eine gute Antwort musste ich mir noch zurechtlegen. Auf die eine Frage, die man mir in Berlin ganz bestimmt stellen würde. Weil mir ja kein Arm fehlte und kein Bein. Weil ich noch nicht einmal blind war. Ganz höflich würde man mich fragen, das Misstrauen hinter Besorgnis versteckt. «Was ist denn das bitte für eine Verwundung, die Sie haben? Man sieht Ihnen gar nichts an.» Ich konnte nicht nach Hause fahren, bevor ich darauf eine Antwort wusste. Die alles sein konnte, nur nicht die Wahrheit.
Und noch etwas hielt mich fest. Eine perverse
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