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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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nicht …
    Eine Handbreit.
     
    Es war am 10. Mai. Einen Tag vor meinem achtzehnten Geburtstag. Ich habe kein Glück mit diesem Datum.
    Wenn ich mir als Kind etwas wünschte, für das ich nach Papas Meinung noch zu jung war, dann sagte er: «Warte, bis du achtzehn bist. Wenn du achtzehn bist, bist du ein Mann.»
    Ha ha ha.
    Ich habe das EK II dafür bekommen. Das Verwundetenabzeichen natürlich. Von dem der Gerstenberg sagte, dass sie es jedem anhängten, der in eine Heftzwecke getreten war.
    Es war keine Heftzwecke. Es war ein Granatsplitter.
    Der Befehl kam, und wir kletterten über den Grabenrand. Zu feige, um keine Helden zu sein. Vor mir Oberleutnant Backes. Sein «Hurra!» klang wie eine Dienstanweisung für die Schreibstube. Er hatte kein Heldenorgan.
    Heldenorgan. Die Pointen machen sich schon selber.
    Über den Grabenrand geklettert und losgelaufen. Drei Schritte oder vier. Nicht mehr. Gestrauchelt. Ich dachte, ich sei nur gestrauchelt. Aber dann konnte ich nicht mehr aufstehen.
    An etwas anderes denken.
    Als Kind habe ich mich vor dem Zahnarzt gefürchtet. Ein Dr. Fränkel an der Tauentzien, der selber schlechte Zähne hatte und wegen seines Mundgeruchs Pfefferminzpastillen lutschte. Bei der Behandlung saß man auf rotem Leder, die Armstützen mit gusseisernen Löwenköpfen verziert. Heldentiere. Einmal, als ich mich im Treppenhaus schreiend dagegen wehrte, die Praxis zu betreten, sagte Mama: «Du musst nur die Zähne zusammenbeißen.» Darüber haben Papa und ich so gelacht, dass ich vergaß, Angst zu haben.
    «Ein deutscher Soldat kennt keine Angst.» Sehr richtig, FeldwebelKnobeloch. Es ist nicht Angst. Bei einem Sturmangriff ist es etwas viel Schlimmeres.
    Trotzdem sind wir losgelaufen.
    Nicht mehr als vier Schritte. Zuerst hat es überhaupt nicht wehgetan. Ich war überzeugt, ich sei nur gestolpert. Dann dachte ich, ich hätte mir in die Hosen gemacht. Aber es war Blut.
    Hat überhaupt nicht wehgetan. Am Anfang.
    Am 10. Mai. Alles Gute zum Geburtstag, lieber Kurt. Alles Gute zum Geburtstag.
    Mama hat mir einen langen Geburtstagsbrief geschrieben. Sie wusste noch nichts von der Verwundung. Hat getrocknete Rosenblätter in den Umschlag gesteckt. Eine der damenhaft eleganten Gesten, die man ihr im Pensionat beigebracht hatte.
    Ich wünsche Dir vor allem, dass du auch weiterhin gesund bleibst , stand in dem Brief. In ihrer schönsten Bad-Dürkheimer-Schrift. Gesundheit ist das Allerwichtigste. Ein Konferenzer, wie sie das immer nannte, hätte die Pointe nicht besser landen können.
    Ha ha ha.
     
    Ich sehe den Stabsarzt noch lächeln. Einer von denen, die auf Optimismus machen, ganz egal, wie beschissen die Nachricht ist, die sie mitzuteilen haben.
    Ein kleiner, gemütlicher Mann. Ein Leben lang darin geübt, ängstliche Angehörige zu beruhigen. Für den Krieg hatten sie ihn in eine Uniform gestopft und ihm eine bunte Feldbinde verpasst. Mein Kopf war hochgelagert, und so blickte ich, wie er da neben meinem Bett stand, direkt auf sein Koppelschloss. Vergoldet und mit zwei Äskulapstäben verziert.
    «Sie haben Glück gehabt», sagte er. Was eine verdammte Scheißlüge war.
    Aber wie verkündet man schlechte Nachrichten?
    Man kann Stiefel anziehen, so wie der von Neusser das gemacht hat, als er mich bei der Ufa rausschmiss, man kann in den Knien wippen und die Daumen in den Gürtel stecken. Als ob man eineUniform anhätte und nicht nur den Anzug, den man bei der letzten Produktion ins Budget geschmuggelt hat. Man kann sich in der Requisite ein Triangel besorgen – ausgerechnet ein Triangel! Weiß die Sau, wie er darauf gekommen ist! –, man kann damit für Ruhe sorgen, pling, pling, pling, und dann, wenn einem alle zuhören, kann man das Todesurteil mit markiger Stimme verkünden.
    Man kann sich auf einen Stuhl stellen, und wenn gesagt ist, was zu sagen war, streckt man das Kinn vor. Ein Raufbold, der einen Passanten angerempelt hat und sich jetzt ganz dicht vor ihn hinstellt und sagt: «Los, schlag zu, wenn du dich traust!» Weil er ganz genau weiß, dass sich der andere nicht trauen wird.
    Zur Belohnung hat der von Neusser meinen Film fertig drehen und sich einmal im Leben Regisseur nennen dürfen. Kind, ich freu mich auf dein Kommen. Wahrscheinlich hat er den Goebbels damit gemeint.
    Man kann sich vor einer schlechten Nachricht auch winden, ganz wörtlich, kann den Körper verdrehen, als ob man in Zeitlupe einer lästigen Fliege auswiche, den Kopf einziehen und die Hände reiben. Von schlechten

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