Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
Vom Netzwerk:
Otto das formulierte. Repatriierten bei der Gelegenheit auch gleich so allerlei, das sich zu Hause gut verkaufen ließ. Man munkelte von einem Oberst, der zwei Koffer voller Fleischkonserven auf den Bahnsteig geschleppt haben soll. Ich glaube die Geschichte nicht. Das Schleppen wird er seinem Burschen überlassen haben.
    Irgendwann, für den letzten oder vorletzten Tag, der nach den Waffenstillstandsbedingungen möglich war, wurde ein Lazarettzug angekündigt, der die frisch Operierten in die Heimat transportieren sollte. Es stellte sich heraus, dass es darin für die Insassen des Krüppelheims keinen Platz gab.
    Man hatte sie vergessen.
     
    Es war natürlich wieder Otto, der das Problem löste. Man kann ihn an einem Fallschirm über der Sahara abwerfen, und vierundzwanzig Stunden später hat er nicht nur eine Oase gefunden, sondern alle Beduinen sind seine Kumpel. In Kolmar kannte er jeden, und jeder kannte ihn.
    Wie er das auch immer gedeichselt und welche Papiere er dafür gefälscht hat: Als der Zug am Bahnsteig einfuhr, hatten die Reichsbahnen Elsass-Lothringen drei zusätzliche Anhänger angekoppelt. Keine Lazarettwagen, wie das in einer idealen Welt hätte sein müssen. Otto schaffte vieles, aber für Wunder war auch er nicht zuständig. Gewöhnliche Waggons, für unsere Schützlinge nicht wirklich geeignet. Betten waren im Zug keine frei. In den Wagen mit dem roten Kreuz auf dem Dach hatte man sie zum Teil sogar zu zweit auf eine Liege gepackt.
    Weil die Militärbürokratie die Invaliden vergessen hatte, war für sie auch keine Verpflegung vorgesehen. So etwas gehörte für Otto zu den leichteren Übungen. Ein ganzes Abteil hatte er mit Fressalien aller Art gefüllt und spielte dort den Quartiermeister. Für denStumpf an seinem rechten Arm hatte er sich – «Ich schule um auf Pirat!» – eine Vorrichtung mit einem Haken dran konstruieren lassen, den schlug er in einen ganzen Schinken und säbelte mit der linken Hand dicke Scheiben davon herunter. «Hau rein», sagte er zu mir. «Ich weiß doch, dass du Hunger hast. In Berlin, höre ich, machen sie sich alle schon neue Löcher in die Gürtel.»
    Mit allen Unterbrechungen und Wartezeiten dauerte die Fahrt fünf ganze Tage. Allein in Karlsruhe standen wir achtzehn Stunden. Weil sie für die Lokomotive keine Kohlen auftreiben konnten. In Hildesheim wollte ein sturer Etappenhengst unsere drei Wagen abhängen lassen. Sie entsprächen nicht den Vorschriften für einen korrekten Krankentransport. Seien in den Zugbegleitpapieren nicht vorgesehen. Das war das einzige Mal, dass ich Otto habe laut werden hören. Der Offizier stand mindestens ein halbes Dutzend Dienstränge über ihm, aber Otto schiss ihn derartig zusammen, von wegen mit fettem Hintern auf einem Bürostuhl hocken, während sich andere den Arsch wegschießen ließen, dass sich der Kerl schließlich verkrümelte, so klein mit Hut, und nicht mehr auftauchte.
    Im Lauf der Fahrt wurden im Zug immer mehr Plätze frei. In den Lazarettwagen starben ein paar Leute, und viele ließen sich ausladen, wenn der Zug in der Nähe ihres Heimatortes anhielt. Ich erinnere mich an einen von unseren Krüppeln, einen Mann, dem beide Beine fehlten. Den haben Otto und ich an einer ganz kleinen Station, irgendwo zwischen Hanau und Fulda, aus dem Zug getragen und auf der Gepäckablage am Stationsgebäude wie ein Paket gegen die Wand gelehnt. Dort wollte er warten, bis ihn jemand abholte. Als wir weiterfuhren, winkten wir ihm zu, aber er schien es nicht zu sehen.
    Wenn ein Ufa-Autor die «Reisegruppe Gerson» in ein Drehbuch geschrieben hätte, genau so, wie wir damals, Ende 1918, fast eine Woche lang durch Deutschland zuckelten und dabei immer weniger wurden, der Mann hätte sich seine Papiere abholen können. Nicht wegen Besetzungsschwierigkeiten. Invalide gab es in Berlin nach dem Krieg genug. Und sie sind ja gerade wieder dabei, für dasRollenfach jede Menge Nachwuchs zu produzieren. Aber Wirklichkeit verkauft sich schlecht. «Zu depressiv», hätte man gesagt. «Drei Waggons voller Krüppel? Viel zu unwahrscheinlich.» Obwohl es so war. Genau so. In einem Abteil, das weiß ich noch, saßen acht Mann und hätten alle zusammen nicht die Notbremse ziehen können. In unseren Waggons war keiner unbeschädigt. Auch nicht der Arztanwärter im Unteroffiziersrang.
    Auf der letzten Etappe, schon über Braunschweig hinaus, haben Otto und ich im Suff versucht auszurechnen, wie viele Gliedmaßen unsere Invaliden im Durchschnitt noch

Weitere Kostenlose Bücher