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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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der Reichsbahn Fahrkarten kaufen. Ob sie Gruppenrabatt kriegt?
    Ich will nicht in diesen Zug steigen. Ich tue alles, um nicht in diesen Zug zu steigen.
    Wir fahren mit der Eisenbahn, wer fährt mit?
     
    Bei Großpapa möchte ich sein. Möchte tot sein wie er.
    Nur: Dann müsste ich mir in der himmlischen Kunstgalerie mein Bild ansehen. Den Kurt Gerron, der ich hätte werden können. Das wird furchtbar.
    Aber wenn mich dann eine vorwurfsvolle Stimme fragt: «Was hast du aus deinem Leben gemacht, Gerron?», werde ich kein Tagebuch brauchen, um mich zu erinnern. Nur einen Zugfahrplan. Alles, was für mein Schicksal entscheidend war, hatte etwas mit einer Fahrt in der Eisenbahn zu tun. Vielleicht fangen deshalb so viele Witze mit den Worten an: «Treffen sich zwei Juden in der Eisenbahn.»
    Da war die Lokalbahn nach Kriescht, die so herrlich laut pfeifen konnte, während sie mich aus meinem Kinderparadies in die wirkliche Welt beförderte. Der Truppentransport von Jüterbog nach Flandern, in dem wir uns mit Heldengeschichten Mut machten, während wir die Fresspakete unserer Eltern wegfutterten. Dieser Feldzug ist kein Schnellzug. Wo habe ich den Spruch zum ersten Mal gehört? Der D-Zug, in dem wir Deutschland verließen, in einem Abteil erster Klasse. All die Züge, mit denen wir quer durch Europa fuhren, auf der Suche nach einem Ort, wo man bleiben konnte und etwas Nützliches tun. Wo man jemand sein durfte. In der Erinnerung kann ich sie nicht mehr unterscheiden; es kommt mir vor, als wären wir ewig unterwegs gewesen, und alle paar Stunden war da eine Grenze. Amsterdam-Westerbork, diese holländisch saubere Spielzeugeisenbahn mit einem richtigen Schaffner, der korrekt und höflich grüßend durch die Waggons ging, obwohl es doch gar keine Fahrscheine zu kontrollieren gab. Der nächste Zug, der so unendlich langsam am Boulevard des Misères einfuhr, wo wir alle, die wir auf der Liste standen, mit angehaltenem Atem darauf warteten, was für Wagen es sein würden. Denn: Nicht alle Züge nach Auschwitz waren angeschrieben. Obwohl die Reichsbahn – Ordnung muss sein – eigene Schilder hatte anfertigen lassen. WESTERBORK-AUSCHWITZ, AUSCHWITZ-WESTERBORK. Mit dem Vermerk: Keine Wagen abhängen. Zug muss geschlossen nach Westerbork zurück. Aber es gab immer mehr Züge, mehr als sie Schilderhatten, und man konnte erst dann beruhigt sein, wenn die Wagen richtige Sitze hatten. Auch die billigste Holzklasse bedeutete, dass die Fahrt nicht nach Auschwitz ging und nicht nach Sobibor, sondern nach Theresienstadt. Und Theresienstadt, so geschickt hatte man uns manipuliert, das war für uns das erträumte Paradies, der Zufluchtsort, in den nur wenige Auserwählte eingelassen wurden. Die Insel der Seligen.
    Wo ein 8/40er schon auf mich wartet.
    Wir fahren mit der Eisenbahn.
    Es hat mich in viele Züge verschlagen in diesem Leben. Der kaiserliche Hofzug war nie dabei. Nur ein kaiserlicher Lazarettzug. Von Kolmar nach Berlin.
    Otto war schon lang davon überzeugt gewesen, dass der Krieg für Deutschland verloren war. «Es ist nun mal so», sagte er. «Ein Land, das für seine Soldaten keine Prothesen auftreiben kann, kann auch keine Kriege gewinnen.»
    Als es dann soweit war, schoss sich der besoffene Major eine Kugel in den Kopf. Delirium tremens oder Patriotismus. So groß ist der Unterschied nicht.
    Es ging plötzlich sehr schnell. Das Lazarett musste geräumt werden, ganz Elsass-Lothringen musste geräumt werden, in zwei Wochen oder vier. So genau weiß ich das nicht mehr. Früher, das hab ich mal irgendwo gelesen, hat man vor dem Weglaufen immer noch schnell die Leichen auf dem Schlachtfeld ausgeplündert, damit die Totschlägerei nicht völlig sinnlos gewesen war. So ähnlich ging es auch in Kolmar zu und her. Jeder versuchte, aus dem allgemeinen Chaos etwas für sich herauszuholen. Die Armee konnte nur das Allernötigste abtransportieren, und so begann ein schwunghafter Handel mit allem, was nicht festgeschraubt war. Leintücher. Matratzen. Medikamente. Man machte Geschäfte und verkleidete sie vor dem eigenen Gewissen als vaterländische Tat. Mit der wunderbaren Ausrede, dass die Sachen nicht den Franzosen in die Hände fallen sollten.
    Ausreden finden sich immer.
    Offiziere waren fast keine mehr da. Sie hatten sich nicht alleerschossen wie unser Major. So furchtbar liebten sie ihr Vaterland nun auch wieder nicht. Sie verschwanden einfach, einer nach dem andern. Es war nicht weit bis übern Rhein, und sie «machten weg», wie

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