Gerron - Lewinsky, C: Gerron
besaßen. Ich meine mich zu erinnern, dass wir auf eins Komma vier Beine kamen und etwa gleich viel Arme. Es können auch weniger gewesen sein. So genau weiß ich das nicht mehr. Unsere Reise näherte sich ihrem Ende, und wir hatten gewaltig gesoffen. Da war noch eine Flasche Cognac übrig, und mit der feierten wir Abschied, bis sie leer war.
Wir hatten uns angefreundet, Otto und ich. Aber wir waren überzeugt, dass wir einander nie wieder sehen würden. Wie das damals so war. «Tschüss denn» und «Mach’s gut» und sich beim Weggehen nicht mehr umdrehen. «War nett, dich gekannt zu haben» und aus die Maus.
«Es ist nun mal so», sagte Otto.
Dass es dann ganz anders kam, dass wir uns nicht nur ein zweites Mal begegneten, sondern noch viele Jahre miteinander arbeiteten, das war nicht vorauszusehen.
Es war nichts von dem vorauszusehen, was noch alles mit mir passierte.
Er hat mich zuerst nicht erkannt. Kein Wunder: Ich hatte eine Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen, und in meinem Mundwinkel qualmte ein Zigarettenstummel. Ich war ein Zuhälter. Typenbesetzung. Man gab mir gern die Bösewichter. Ich hatte das Gesicht dafür und die Figur. Im Stummfilm muss man spielen, wonach man aussieht. Wenn sie mich bei dem Sturmangriff nicht zwangsweise zum Helden gemacht hätten, wäre ich vielleicht als Naturburschedurchgegangen. Die dürfen auch mal groß und dürr sein. Ich war groß und fett. Spielte Kraftmenschen, Ringkämpfer und, eben, Zuhälter.
Man hatte damals noch nicht diese prächtigen Ateliers, wo man in der einen Halle Sodom aufbauen kann und in der andern Gomorrha. Wir drehten an der Wallstraße beim Spittelmarkt. In einem verglasten Dachgeschoss, das früher mal eine private Kunstschule gewesen war. Die vielen Fensterscheiben waren gut fürs Licht, aber schlecht für die Gesundheit. Im Sommer schwitzte man wie die Sau und musste ständig die Leichner-Schminke neu überpudern. Im Winter schlotterte man sich die Knochen aus der Haut. Aber beim Kientoppen ließ sich Geld verdienen. Im Kabarett trat man für eine Gulaschsuppe und fünf Mark auf. Dafür konnte man sich, auch vor der Inflation, kein Rittergut kaufen.
Regisseur war der Franz Hofer, der damals noch seine eigene Filmgesellschaft hatte. Die permanent in den roten Zahlen steckte. Um sich über Wasser zu halten, produzierte er Aufklärungsfilme. Ein pädagogisches Etikett für publikumswirksame Schweinereien. Die Beichte einer Gefallenen und so was alles. Mein Film hieß Wege des Lasters . Ich hatte die Art Rolle, mit der man sich seinen Ruf hätte versauen können. Wenn ich damals schon einen Ruf gehabt hätte.
Was in dem Film passierte, habe ich längst vergessen. Ich weiß nur noch die eine Situation. Bei der ich Otto wieder traf. Vor mir auf dem Boden kniete die Grita van Ryt, die Hofers aktuelle Flamme war und deshalb die Hauptrolle spielte. Mit roter Schminke rund um die Augen. Weil das auf dem Film besonders dunkel rauskam. Und mit zwei dicken Vaselinestreifen senkrecht über die Backen, was wie Tränen aussehen sollte. In der Szene flehte sie mich um irgendetwas an, ich weiß nicht mehr was, ich sollte sie aus der Hölle des Lasters befreien, ihre arme alte Mutter vor dem Hungertod bewahren oder ihr nicht in die Suppe spucken – egal, diese Details machten sie hinterher mit den Zwischentiteln. Ich hatte nichts zu tun, als so auszusehen, wie sich der Hofer einen Bösewicht vorstellte. Gnadenlos und unerbittlich. Die Grita war Holländerin. Umden richtigen Gesichtsausdruck hinzukriegen, monologisierte sie in ihrer Muttersprache, von der ich damals noch kein Wort verstand. Sie hat nie richtig gut Deutsch gelernt. Als dann der Tonfilm aufkam, war sie weg vom Fenster. Während es bei mir erst richtig losging.
Sie jammerte mir also ihre tragische Lebensgeschichte vor, oder vielleicht rezitierte sie auch die Käsepreise vom Markt in Alkmaar, ich verstand es ja nicht. Ich hoffte die ganze Zeit nur, dass der Hofer bald abbrechen würde. Mein Zigarettenstummel wurde immer kürzer, und ich wollte mir nicht die Lippen verbrennen.
Da sagt eine Stimme: «Mich laust der Affe. Der Gerson!»
Während Stummfilmdrehs wurde im Atelier immer gequatscht, von Technikern oder Kollegen, die grade nicht dran waren. Man lernte schnell, sich davon nicht ablenken zu lassen. Aber an dem Tag bin ich aus der Szene rausgelaufen, mitten in Gritas Jammerarie. Es war mir scheißegal, dass sich der Hofer darüber aufregte.
Ich hatte Otto Burschatz wiedergefunden.
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