Gerron - Lewinsky, C: Gerron
schließlich sei Krieg, und da müsse jeder sein Opfer bringen.
Bla bla bla.
Noch beleidigter reagierte er, weil er das Bad mit seiner Assistentin teilen musste. Obwohl die beiden – man hatte diesen Eindruck, so wie sie ihn anhimmelte – wohl sehr viel mehr miteinander teilten.
Aber eben: Unthan war ein Arschloch.
Mir ließ er von seiner Assistentin einen gedruckten Zettel in die Hand drücken, auf dem stand der Text, mit dem er angesagt werden wollte. «Lernen Sie das bitte bis morgen auswendig, junger Mann, das wirkt dann viel natürlicher, als wenn sie es ablesen.» Es war – Wort für Wort, schien mir – die exakt gleiche Ansage, die ich als kleiner Junge im Wintergarten gehört hatte. Von «Es ist mir eine große Ehre, Ihnen jetzt einen ganz besonderen Gast ansagen zu dürfen» bis zu «der unglaubliche und einmalige Carl Hermann Unthan».
«Und noch etwas: Werden viele Armamputierte im Publikum sein?»
«Wieso?»
«Man sollte sie vielleicht darauf aufmerksam machen, dass man vor Begeisterung auch trampeln kann. Es ist für einen Künstler immer unangenehm, wenn dort, wo er ihn erwarten darf, kein Applaus kommt.»
Es trampelte niemand. Der Auftritt war kein Erfolg. Gelinde gesagt. Der Herr Unthan ist komplett abgestunken. Und hat es nicht einmal gemerkt.
Er war, das hatte er sich im Variété so angewöhnt, eine Stunde zu früh da, noch dicker geschminkt als bei seiner Ankunft, und fing gleich wieder an zu stänkern. Hatte an allem, was ich für ihn vorbereitet hatte, etwas auszusetzen. Die Bühnenarbeiter im DeutschenTheater haben mal einem Gast, der sich so benahm, ein Abführmittel in den Tee gemischt und ihm dann, als er auf dem Klo saß, die Tür zugenagelt. Mir wären auch ein paar hübsche Dinge eingefallen, die ich Herrn Unthan gern angetan hätte. Aber das Kriegsministerium hatte seinen Auftritt befohlen, und mit denen konnten wir uns keine Schwierigkeiten leisten.
Am meisten ärgerte ihn, dass es in der Schulaula keine Bühne gab. Keine Kulisse, aus der er dramatisch hätte auftreten können. «Wenn die Leute mich vorher sehen, ist der Effekt weg», jammerte er. Seine Assistentin machte dazu den händeringenden griechischen Chor. Allerdings war sie dabei nicht halb so komisch wie ich ein paar Jahre später als Chor der Römer im Kadeko.
Überhaupt war Effekt Unthans Lieblingswort. Da gab es den Effekt, wenn ihm beim Geigenspiel die Saite riss – der kleine Junge, der immer noch in mir steckte, musste enttäuscht einsehen, dass die Panne damals im Wintergarten kein einmaliges Ereignis, sondern Absicht gewesen war –, es gab den Effekt mit der durchschossenen Spielkarte und eben den bei seinem Auftritt, wenn die Zuschauer staunend realisieren sollten, dass da tatsächlich einer ohne Arme vor ihnen stand. «Es geht dann immer ein ‹Oh!› durch die Reihen», sagte Unthan stolz. Seine Assistentin machte ein ganz rundes Mündchen, wie um der ganzen Welt dieses Staunen zu soufflieren.
Ich glaube, er hat das «Oh!» dann auch gehört. Obwohl es kein «Oh!» gab. Am Schluss bedankte er sich mit eingeübter Bescheidenheit für einen Applaus, den er als tosend wahrnahm, obwohl er nur müde vor sich hin kleckerte. Er war ein altes Bühnenross und spulte seine Nummer ab, ohne zu merken, wie absurd das in diesem Umfeld war. In Theresienstadt begrüßen sich Leute auch immer noch mit ausgesuchter Höflichkeit als «Herr Doktor» und «Herr Professor», obwohl man ihnen die Titel schon längst aberkannt und sie ganz offiziell zu Scheißjuden ernannt hat.
Ich sagte ihn an wie gewünscht. Er trat durch die Saaltür auf und marschierte durch den Mittelgang nach vorn. Der Effekt ging in die Hose, weil keine Sau auf die Idee kam, dass er der Star der Veranstaltungsein sollte. Ein Mann ohne Arme in einem Krüppelheim – na und?
Die ganze patriotische Tournee war ein Denkfehler. Ich weiß nicht, der wievielte Auftritt auf seiner Rundreise wir waren; auf jeden Fall hatte er bei uns in Kolmar noch nicht begriffen, dass seine Behinderung für dieses spezielle Publikum keine Attraktion war. Noch nicht einmal etwas Besonderes. Verkrüppelt waren sie hier alle. So mancher, den Unthan schwülstig als seinen lieben Kriegskameraden anredete, hätte liebend gern mit ihm getauscht. Wenn einer keine Beine hat und seit Monaten vergeblich auf die Zuteilung eines Rollstuhls wartet, erscheint ihm ein Leben ohne Arme geradezu paradiesisch. Otto, mit seiner bösen Schnauze, brachte es auf den Punkt. «Armlos ist
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