Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Stücks überzeugt bleiben. Auch wenn ihnen längst klar sein müsste, dass ihre Rolle nur darin besteht, pünktlich aufs Stichwort zu sterben. Die immer noch «Bravo!» rufen, wenn ihnen die Schlinge schon den Hals abschnürt. Die fest mit der Gage rechnen, die sie sich mit ihrer Sterbeszene zu erspielen meinen.
In Westerbork und hier in Theresienstadt habe ich eine Menge Leute dieser Sorte kennengelernt. Sonderbar: Die meisten davon sind keine dummen Menschen. Im Gegenteil.
Dummheit könnte ich verstehen. In einem schlechten Stück bis zum Schluss sitzen bleiben, weil man die Karte nun einmal gekauft hat oder geschenkt bekommen, auch im letzten Akt noch hoffen, dass die Vorstellung irgendwann besser wird – das könnte ich begreifen.
Aber wie jemand sagen kann: «Das Stück ist schlecht und wird immer schlechter, und trotzdem bin ich dankbar dafür» – das will mir nicht in den Kopf. Wie man Abonnent bleiben kann, obwohl man mit dem Spielplan schon lang nicht mehr einverstanden ist. Natürlich, Pfeifen und Buh-Rufen macht eine Aufführung nicht besser. Aber es erleichtert ungemein.
Das verstehen diese Leute nicht. Wollen ihrem Schmierenkomödianten ums Verrecken applaudieren. Man kann ihnen das nicht ausreden.
Bei ihnen wirkt die Droge. Sie schaffen es, besoffen zu sein, wo ich nüchtern bleibe. Haben diese erstrebenswerte Krankheit, gegen die ich immun bin.
Ich bin zu jung gegen Religion geimpft worden. «Solang man mir den lieben Gott nicht unter dem Mikroskop zeigen kann, glaube ich nicht an ihn», sagte Papa. Jede Art von Ritual gehörte für ihn in die Rubrik Sitten und Gebräuche primitiver Völker . «Im zwanzigsten Jahrhundert tanzt man keine Stammestänze mehr», sagte er. «Wenn wir erst einmal die Religionen abgeschafft haben, wird auch der Antisemitismus verschwinden.»
Er war eben doch nicht allwissend, mein Vater.
Von allen Religionen mochte er die Juden am wenigsten. Von dieser Haltung ließ er sich auch nicht durch die Tatsache abbringen, dass er selber einer war. Judskis nannte er sie. Ich merkte lange Zeit nicht, dass es so ein Wort überhaupt nicht gibt. Ich dachte, es gehöre zu dem privaten Vokabular, das Papa aus seinem Heimatdorf mitgebracht hatte. Oder das vielleicht sogar eine Generation älter war und noch weiter aus dem Osten stammte.
Glumskopp war so ein Wort. Es wurde immer dann verwendet, wenn ich mich mal wieder ungeschickt angestellt hatte – also häufig. Oder Nachschrabsel , was etwa so viel bedeutete wie mein kleiner Liebling . Und alles und jedes, was auffällig oder sensationell war, bezeichnete Papa als ambartschig .
Warum also nicht Judskis ?
«Ich kann diese Judskis nicht ausstehen», sagte er. Mama tat ihm auch bei der hundertsten Wiederholung noch den Gefallen und setzte ein gehörig schockiertes Gesicht auf. Sie spielte schockiert auf dieselbe Weise, wie ich es später bei Magda Schneider gesehen habe. Nur ohne deren neckisch gerümpfte Nase. Seine Provokation und ihre gespielte Empörung gehörten zu ihrer gut eingespielten Ehe. Er sah sich als Rebell gegen jede Art von Konvention und Tradition, und sie ließ ihn gewähren. Schließlich konnte er dieser Neigung nur im Kreis der Familie frönen. Alles andere hätte der Firma geschadet. Seine Kunden, die Grossisten genauso wie die Besitzer von kleinen Kleiderläden, waren nun mal zum größten Teil Judskis.
Wenn es so etwas gibt, war Papa ein orthodoxer Atheist. Die jüdischen Traditionen wurden bei uns streng beachtet, um sie dann aus Prinzip nicht zu pflegen. So besuchten wir einmal im Jahr, am Jom Kippur, die neue Synagoge an der Oranienburger Straße. Nicht aus Frömmigkeit, Gott behüte. Weil er der Meinung war, dass die Kundschaft das von ihm erwarte.
Es war immer ein sehr angenehmer Tag. Ich bekam schulfrei, und in der Synagoge genoss ich die Orgelmusik. Während Papa mit seinen Nachbarn über Geschäftsaussichten und Lieferanten diskutierte. Zu Hause erwartete uns dann ein besonders reichhaltiges Mittagessen. So demonstrierte Papa sich selber, dass der jüdischeFasttag für ihn nicht mehr Bedeutung hatte als etwa der 27. Januar. Wo man zu Kaisers Geburtstag auch eine Fahne aus dem Fenster hängte, ohne deshalb gleich ein begeisterter Anhänger der Hohenzollern zu sein.
Dass ich pünktlich zum dreizehnten Geburtstag meine ersten langen Hosen bekam, kann ich mir nur dadurch erklären, dass die alten Traditionen für ihn lebendiger waren, als er es sich selber eingestand. Die ganzen Rituale, die
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