Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
Vom Netzwerk:
sonst für einen jüdischen Jungen zu diesem Datum gehörten, durfte ich aber nicht mitmachen. Dabei wäre ich liebend gern vor der ganzen Gemeinde als Thoravorleser aufgetreten. Es hätte meinem schon damals stark entwickelten Hang zum Theaterspielen entsprochen.
    Die Heftigkeit, mit der Papa alles Religiöse und vor allem alles Jüdische als unmodern und überholt ablehnte, hatte nichts mit irgendwelchen aufklärerischen Erkenntnissen zu tun – Meyers Konversations-Lexikon hin oder her. Er war einfach davon überzeugt, dass jeder Form von Gottgläubigkeit etwas Provinzielles anhafte. Und provinziell wollte er, wie viele Leute, die selber aus der Provinz stammen, auf keinen Fall sein. Bemühte sich, großstädtischer als jeder alteingesessene Berliner zu wirken, konnte aber die Sprachmelodie seiner Jugend mit dem rollenden R und den gequetschten Vokalen nie ganz ablegen.
    Vielleicht habe ich die Faszination für die Verstellung von ihm geerbt. Er hat sein ganzes Leben lang eine Rolle gespielt: die des intellektuellen Revoluzzers. Aber die Umstände – im Zivilstand Lampenputzer – sorgten dafür, dass seine Rebellion immer rein theoretisch blieb. Äußerlich war ihm davon nichts anzumerken. Zu jeder Zeit, auch zu Hause, war er so korrekt gekleidet, wie man das von einem Konfektionär mit dem Hang zur besseren Kundschaft erwarten durfte. Ein diskret gemusterter Anzug mit Weste, eine seidene Krawatte, ein unbequem steifer Kragen. Dazu ein Schnurrbart, den er zwar nicht in Es ist erreicht- Manier nach oben zwirbelte, der aber doch regelmäßige Pflege mit einer speziellen Bürste erforderte.
    Er war, wie auch Mama, nicht sehr groß gewachsen. Wenn es pädagogischwerden sollte, musste ich langer Spargel mich hinsetzen, damit er während seiner Gardinenpredigt nicht zu mir hinaufzuschauen brauchte.
    Wenn er noch lebte, würde ich ihn gern in die Arme nehmen und ihm ins Ohr flüstern: «Du Glumskopp, du!»
     
    Was meine Eltern anbelangt, habe ich mir nichts vorzuwerfen. Ich habe mich immer um sie gekümmert, auch in der Emigration. Wenn ich sie hätte retten können, hätte ich sie gerettet. Ich hätte sie sogar geliebt, wenn sie es zugelassen hätten. Aber mein allzeit vernünftiger Papa mochte keine Gefühlsduseleien, und in Mamas wohlerzogener Welt waren Zärtlichkeiten nicht vorgesehen.
    Ich beschwere mich nicht. Es hat mir nie an etwas gefehlt. Nur: Manche Dinge habe ich nicht gelernt. In einem Haus ohne Musik wachsen keine Musiker heran. Als Regisseur war ich gut darin, Liebesszenen zu inszenieren. Weil ich mir auch im Alltag jedes Mal überlegen musste, wie das geht. Wir haben es zu Hause nicht geübt.
    Meine Eltern haben mich geliebt, da bin ich mir sicher. Sie konnten es bloß nicht zeigen. Nicht so, wie ich mir das in einer Familie vorstelle. Nicht wie ich ein eigenes Kind geliebt haben würde. Nicht wie dieses Kind mich geliebt hätte. Nicht …
    Es war so, wie’s war.
    Sie haben viel für mich getan. So wie es ihnen richtig erschien. Vielleicht, ich weiß es nicht, haben sie sich nach meiner Geburt ein Erziehungshandbuch gekauft und dann Punkt für Punkt abgearbeitet. Wenn in dem Buch keine Gefühlsäußerungen vorkamen, war das nicht ihre Schuld. Mama konnte eine Orange mit Messer und Gabel schälen, aber sie wusste nicht, wie man jemanden umarmt. Man hatte es ihr nicht beigebracht. Im Gegenteil: In Bad Dürkheim an der Weinstraße hatte man es ihr ausgetrieben.
    Als ich dann Olga begegnete, da war für mich das Wunderbarste an ihr, dass solche Sachen für sie ganz selbstverständlich waren. Dass sie nie darüber nachdenken musste. Sie kam aus einer ganz anderen Art von Familie.
    An dem Tag, als sie mich in Hamburg ihren Eltern vorstellte, hatte ich mehr Lampenfieber als vor der wichtigsten Premiere. Und dann hat mich ihre Mutter zur Begrüßung auf beide Backen geküsst, und ihr Vater hat mir den Arm um die Schultern gelegt. Er musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen, und darüber haben wir alle vier gelacht.
    Dann sind Olga und ich miteinander nach Berlin gefahren, und wieder war ich der mit dem Lampenfieber. Sie war ganz ruhig. Ich glaube, sie hat die unpersönliche Künstlichkeit, mit der sie in ihrer neuen Familie empfangen wurde, überhaupt nicht bemerkt. Olga besaß schon immer eine Fähigkeit, die mir völlig abgeht: Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind. Ich muss immer an ihnen herumschrauben. Sie in meinem Kopf uminszenieren.
    Bei der ersten Begegnung streckte Mama ihrer neuen

Weitere Kostenlose Bücher