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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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schon. Aber mindestens so aufregend. Um für alle Entdeckungen gewappnet zu sein, nahm ich meine Botanisierbüchse mit, in der ich von sonntäglichen Spaziergängen im Tiergarten Würmer und Käfer nach Hause zu schleppen pflegte.
    Wie stark doch Empfindungen in uns haftenbleiben! Wenn ich an unsere Abreise denke, spüre ich wieder die Verwunderung darüber, dass Papa nur einen kleinen Koffer mitnahm. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – eine Karawane schwerbepackter Kamele? –, aber in meiner kindlichen Logik schien es mir unmöglich, eine so große Reise mit nur einem einzigen Gepäckstück anzutreten.
    Erst sehr viel später habe ich lernen müssen, dass in einem Koffer ein ganzes Leben Platz haben kann.
    Gefühle sind – wie Gerüche – eine Vorrichtung zum Festhalten von Erinnerungen. Ich muss nur daran denken, und schon spüre ich wieder die Vorfreude, das Reisefieber und jenes andere, bittere Gefühl, das ich für alle Zeiten mit Kriescht verbinde.
    Unser Zug fuhr vom Schlesischen Bahnhof. Die Tafel am Wagen kündigte exotische Ziele an: Königsberg, Eydtkuhnen, St. Petersburg. Wir fuhren nur bis Küstrin und von dort mit einer Lokalbahn, die herrlich laut pfeifen konnte, weiter bis Kriescht. Wo nichts so war, wie ich es erwartet hatte.
     
    Genau so wie ich damals muss sich ein alter Mann fühlen, der immer noch an die prinzipielle Korrektheit deutscher Behörden glaubt und deshalb sein ganzes Vermögen in einen Heimeinkaufsvertrag in Theresienstadt investiert hat. Für eine Wohnung mit Balkon und Seesicht. Dann kommt er aus der Schleuse und erfährt, dass es hier gar keinen See gibt und auch keinen Balkon und natürlich auch keine Wohnung.
    In Kriescht gab es gar nichts. Ich kann die Enttäuschung immer noch spüren. Mit Enttäuschungen kenne ich mich aus.
    Da war nur ein einziger Bahnsteig und etwas, das sich Bahnhof nannte. Für mich an andere Maßstäbe gewöhnten Berliner Steppke ein besserer Schuppen. Rund um einen großen, leeren Marktplatz, der nach Kuhscheiße roch, das eine oder andere größere Gebäude. Eine Fachwerkkirche und ein Kriegerdenkmal. So planlos zusammengewürfelt, als ob jemand den Grundbaukasten Deutsches Provinznest aufs Geratewohl in die Landschaft gekippt hätte. Ich spürte gleich, dass hier auch nicht der geringste Hauch von Abenteuer in der Luft lag. Am liebsten wäre ich gleich wieder zurückgefahren.
    Und dann sagte Papa auch noch: «Wir sind noch gar nicht da.»
    Sein Kriescht, erklärte er mir, war nicht hier, wo sich das Dorf unbegabt als Städtchen kostümierte, sondern ein paar Kilometerweiter, in einem Ortsteil namens Nesselkappe. Dorthin fuhr keine Bahn, und Droschken, wie sie in Berlin an jeder Ecke standen, gab es auch nicht. Wir mussten zu Fuß gehen. Deshalb hatte er so wenig Gepäck mitgenommen.
    Es kann nicht Winter gewesen sein, obwohl es sich so anfühlte. Es war kalt, und der Weg war lang. Ich erinnere mich an ganze Meteoritenschwärme von trockenen Blättern, die uns der Wind ins Gesicht trieb. Mein Mantel, bestimmt aus eigener Fabrikation, Max Gerson & Cie., wärmte schon bald nicht mehr. Ich habe nie wieder so gefroren wie auf jenem Fußmarsch.
    Das stimmt nicht. Ich habe oft viel mehr gefroren. Aber all die andern Male wusste ich schon, dass Frieren bei weitem nicht das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Hatte ich schon gelernt, dass sich die Welt nicht an Spielregeln hält.
    Papa ging voraus, wohl um mich vor dem Wind zu schützen, der uns entgegenblies. In der einen Hand trug er seinen Koffer, und mit der andern hielt er seinen Hut fest. Von hinten sah das aus, als ob er salutierte. Ich dachte mir eine Geschichte dazu aus: Wir waren zwei Soldaten, die in die Schlacht zogen. Oder wir hatten sie bereits gewonnen und marschierten jetzt nach Hause, um siegreich Meldung zu erstatten. Vielleicht waren wir verwundet, aber das ließen wir uns nicht anmerken. Über so etwas lachten wir bloß. Und marschierten aufrecht, mit festem Schritt und Tritt. Die Phantasie half mir – wie mir meine Phantasie noch oft geholfen hat –, aber irgendwann konnte ich mit Papa nicht mehr mithalten. Vielleicht ging er, ohne es selber zu bemerken, immer schneller, weil sein Körper in stärkerer Bewegung Wärme suchte. Oder ich wurde langsamer. So oder so: Irgendwann konnte ich ihm nicht mehr folgen.
    Ich habe nicht gerufen. Helden tun so etwas nicht.
    Plötzlich war da nur noch die Straße, links und rechts von Hecken gesäumt, ein Kiesweg voller Schlaglöcher und

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