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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Schwiegertochter die Hand mit so künstlicher Eleganz hin, dass Olga nur ihre Fingerspitzen zu fassen kriegte. Papa machte diesen halben Diener, den sie auch mir beigebracht haben, und sagte: «Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Fräulein Meyer.» Ich hatte sie mit ihrem Vornamen vorgestellt, aber das war ihm nicht korrekt genug.
    Dabei war Papa von Anfang an begeistert von ihr. Und das einzige, was Mama auszusetzen hatte, war die Tatsache, dass Olga einen Beruf hatte. In ihrer Welt verdienten sich Frauen nicht ihr eigenes Geld.
    Sie mochten sie wirklich. Aber sie konnten es nicht zeigen. Dafür hatten sie kein Talent.
    Wenn ich als kleiner Junge Papa gefragt hätte: «Liebst du mich?», hätte er geantwortet: «Das ist doch selbstverständlich.» Was selbstverständlich ist, muss ein logisch denkender Mensch nicht auch noch demonstrieren.
    In der Krankenstation von Westerbork habe ich, als es mir wieder besserging, angefangen, die Bibel zu lesen. Man muss das einmal im Leben getan haben. Um zu verstehen, warum manche Menschen davon so begeistert sind.
    Du sollst Vater und Mutter ehren steht da. Es braucht ein eigenes Gesetz dafür, weil es eben nicht selbstverständlich ist.
    Ich bin kein frommer Mensch, aber an dieses Gebot, das kann ich mit gutem Gewissen sagen, habe ich mich mein Leben lang gehalten.
    Nur: Aus mir wäre ein anderer geworden, wenn ich nicht in der überkorrekten Atmosphäre der Klopstockstraße aufgewachsen wäre. Genau so wie Mama ohne Bad Dürkheim eine andere geworden wäre. Oder Papa ohne sein Heimatörtchen Kriescht.
     
    Kriescht.
    Man muss den Namen laut aussprechen, um richtig zu spüren, wie hässlich er ist.
    Kriiiescht.
    Wer will schon aus einem Ort stammen, der so heißt? Selbst ein Napoleon hätte, in Kriescht geboren, keine Karriere gemacht. Unteroffizier wäre er allerhöchstens geworden, bei seiner Körpergröße. Aber niemals Kaiser.
    Braunau, das ist ein Name für einen Geburtsort. Da ist schon die Farbe der Hemden mit drin. Aber doch nicht Kriescht.
    Bei uns zu Hause war das ein Schimpfwort. Bezeichnete alles, was unelegant war. Wenn ich in der Nase bohrte oder beim Essen die Ellbogen auf den Tisch stützte, wurde ich angeblafft: «Wir sind hier nicht in Kriescht!» Manchmal brachte Papa das Muster einer neuen Bluse oder eines Rocks zur Prüfung nach Hause; meine Mutter war schließlich in der Konfektion , wie sie das nannte, aufgewachsen und hatte in diesen Dingen einen sicheren Geschmack. Sie machte dann nicht viele Worte, nickte nur zustimmend oder schüttelte den Kopf. Und manchmal – das war ihr vernichtendstes Urteil – sagte sie mit ganz spitzem Mündchen: «Kriescht». Was unmöglich hieß, provinziell, für Berlin völlig ungeeignet.
    Kriescht eben.
    Papa erzählte nicht viel von seiner Jugend in der Mark Brandenburg. Sehr angenehm kann sie nicht gewesen sein. «Es gibt Orte», sagte er, «an die erinnert man sich nicht. Die vergisst man.»
    Was natürlich nicht stimmt. Gerade die Orte, an die man sich nicht erinnern will, vergisst man nie.
    Und doch ist er noch einmal nach Kriescht gefahren. Wohl nicht freiwillig, sondern weil es sich nicht vermeiden ließ. Es war jemand gestorben, ich weiß nicht mehr wer, und ein Haushalt musste aufgelöst werden. Ich kann damals nicht mehr als fünf oder sechs gewesen sein, und es muss einen Grund gegeben haben, warum ich mitfahren durfte. Vielleicht litt Mama wieder an ihrer Magengeschichte und brauchte Ruhe. Man traute unserer Haushälterin – ich kann mich weder an ein Gesicht noch an einen Namen erinnern – wohl nicht zu, mich genügend still zu halten. Bestimmt hatte Großpapa angeboten, mich die paar Tage aufzunehmen. Ebenso sicher war das Angebot abgelehnt worden. Von wegen Zigarrenrauch und unpädagogischen Geschichten.
    Wie auch immer, ich, der kleine Kurt Gerson, der noch nie aus Berlin weg gewesen war, durfte eine Reise machen. Durfte zum ersten Mal in eine Eisenbahn steigen und ganz weit wegfahren. Bis nach Kriescht, das ich mir, ohne bei dem Gedanken die geringste Angst zu empfinden, als einen Ort voller exotischer Bedrohungen und Gefahren vorstellte. Warum sollte ich Angst haben, wo doch Papa dabeisein würde?
    Ich besaß damals ein Bilderbuch, in dem trug ein hünenhafter Neger einen kleinen Jungen auf den Schultern durch einen Fluss, während ein Mann mit Tropenhelm hinter ihnen ein Krokodil erschoss. So eine Expedition würde es werden, stellte ich mir vor. Ohne Krokodile natürlich, soviel wusste ich damals

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