Gesammelte Wanderabenteuer
Süddeutschland. Aber die Mitte? Die bleibt unerwähnt. Es gibt aber eine Mitte. Eine geographische und mathematische Mitte Deutschlands. Je nach Berechnung liegt diese Mitte in Krebeck, Heiligenstadt oder Niederdorla (auf Niederdorla hat sich der Verband deutscher Schulgeographen e.V. geeinigt, und wenn die es nicht wissen, wer dann?). Auf jeden Fall liegt die geographische Mitte Deutschlands in der Nähe des Hainich in Thüringen.
Hainich? Wer oder was ist der Hainich? Ich hatte im Vorfeld meiner Wanderung bei einigen Mitmenschen getestet, ob sie den Hainich kennen. Aber weder Kai Pflaume noch |322| meine Mutter hatten je etwas von diesem Mini-Mittelgebirge gehört. Auch nicht von den Orten dieses Landstrichs, von Wanfried, Nazza, Treffurt, Langula, Großengottern und Langenfeld unterm Stein.
Dass der Hainich so unbekannt ist, wundert einen nicht, denn immerhin war dieser schmale Höhenzug in Thüringen nördlich der Wartburgstadt Eisenach 60 Jahre lang auf keiner Landkarte verzeichnet gewesen. Das war nicht der Fluch der Mitte. Es handelte sich um militärisches Sperrgebiet, das von der Wehrmacht, der nationalen Volksarmee und der Roten Armee zu Übungszwecken genutzt wurde. Nun befindet sich dort einer der 14 deutschen Nationalparks.
Als Startpunkt der Hainich-Entdeckungsreise hatte ich Mihla ausgewählt, ein Ort zwölf Kilometer von der geographischen Mitte Deutschlands entfernt. Ich hatte mich natürlich im Internet über den Hainich informiert. Die Bilder im Netz hatten unberührte Natur ohne Forstwirtschaft versprochen und mich neugierig gemacht. Mit meiner Tochter Lena wollte ich 15 Kilometer bis zum Baumkronenpfad Thiemsburg gehen. Der Baumkronenpfad wurde im Sommer 2005 eröffnet und ist der zweite seiner Art in Deutschland (den anderen findet man übrigens im Pfälzer Wald!). Dort kann in luftiger Höhe und aus ungewöhnlicher Perspektive der Wald entdeckt werden.
Ein ansteigender Asphaltweg führte zu einer ehemaligen Kaserne, hinter der schließlich der Wald begann. Eine Tafel am Wegrand klärte uns darüber auf, dass wir auf der Hohen Straße gingen, eine alte Wirtschaftsstraße und damit für den ambitionierten Wanderer so prickelnd wie eingeschlafene Füße. Auf dem Weg hörten wir einen Specht und begegneten einem Hund mit seinem Herrchen. Mehr Tiere sollten |323| wir an diesem Tag nicht zu sehen bekommen, dabei war uns von der äußerst netten Frau im Hotel einiges versprochen worden – ihren Gästen wären schon Wildschweine, 32 an der Zahl, begegnet. Auch Dachse und sogar Waschbären sollten im Hainich leben. Vermutlich hielten sie alle noch ihren Winterschlaf.
An einer großen Eiche bogen wir rechts auf den Gratweg des Hainich, den Rennstieg. Spätestens nach zwei bis drei Kilometern war klar: Auch hier herrschte Wanderlangeweile. Ein Nationalpark-Ranger (toller Halb-Anglizismus, die Jungs haben fast so schicke Uniformen wie ihre amerikanischen Kollegen) hielt mit seinem Auto neben uns und fragte, ob wir uns zurechtfinden würden. Das war aufmerksam, aber der Weg war beim besten Willen nicht zu verfehlen. Lena hätte es noch netter gefunden, wenn uns der Ranger ein Stück mitgenommen hätte. So blieb ihr nur die Flucht in Phantasiewelten. Wie könnte ein idealer Erlebnisweg aussehen? An verschiedenen Wegkreuzungen müssten Ausleihpferde zur Verfügung stehen, die man nach einigen Kilometern wieder zurückgeben könnte. Die Wanderwege müssten auf jeden Fall gefährlich und nur geeignet für 12- bis 35-Jährige sein. Kleine Schluchten müssten auf wackligen Holzbrücken und an Seilen überwunden werden. Oder man müsste sich an Felsen entlanghangeln. Vielleicht hätte ihr das ursprüngliche Militärübungsgelände der Roten Armee besser gefallen?
Auch ein kurze Zeit später entgegenkommendes, Kaugummi kauendes, pubertierendes Etwas mit ins Gesicht gezogener Kappe schien nicht sonderlich angetan vom samstäglichen Hainich-Ausflug mit seinen Eltern.
Acht Kilometer nach unserem Start wurde der Weg endlich etwas besser. An der Wanderhütte Hellmund-Stein bog der |324| Rennstieg halb links in den Wald hinein. Dort wuchsen am Wegesrand kleine Blumen mit weißen Blüten. Lena tippte auf Schneeglöckchen, war sich aber nicht sicher. Ich sollte doch unbedingt ein Wanderpärchen fragen, das sich uns näherte, drängte sie, die würden so aussehen, als wüssten sie, was im Hainich wächst und blüht. Ich hatte aber keine Lust zu fragen, es war mir zu peinlich. Und meine 14-jährige
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