Gesammelte Werke 1
nicht?«
»Das ist Malaja Pescha«, erklärte Toivo.
»Dann müssen Sie ihn kennen: Grigori Alexandrowitsch Jarygin. Soviel ich weiß, wohnt er jeden Sommer hier.« Plötzlich zeigte er mit der Hand in eine Richtung und rief freudig aus: »Da ist es ja, dort, das Cottage! Dort auf der Veranda hängt mein Regenumhang!«
Und dann klärte sich alles auf. Der Unbekannte erwies sich als Zeuge. Er hieß Anatoli Sergejewitsch Krylenko, war Viehzuchttechniker und arbeitete tatsächlich im Steppengürtel, im Asgirer Agrarkomplex. Am Vortag war er auf der Jahresausstellung in Archangelsk zufällig auf seinen Schulfreund Grigori Jarygin gestoßen, den er seit zehn Jahren nicht gesehen hatte. Natürlich nahm ihn Jarygin mit zu sich nach Hause, hierher, nach … nach … ja richtig, nach Malaja Pescha. Sie hatten zu dritt einen wunderschönen Abend verbracht - er, Jarygin und dessen Frau Elja. Sie waren Boot gefahren, im Wald spazieren gegangen und gegen zehn Uhr zurückgekehrt, in dieses Cottage dort. Dann hatten sie zu Abend gegessen
und sich auf die Terrasse gesetzt, um Tee zu trinken. Es war sehr hell und warm gewesen, vom Flüsschen hatten Kinderstimmen herübergeklungen und sie hatten den Duft der Polarerdbeeren genossen. Und dann - plötzlich - hatte Anatoli Sergejewitsch Krylenko diese Augen gesehen …
Diesen für die Untersuchung besonders wichtigen Teil seiner Erzählung gab Anatoli Sergejewitsch, gelinde gesagt, sehr unverständlich wieder. Es war, als bemühe er sich vergeblich, einen unheimlichen, verworrenen Traum zu erzählen.
Die Augen blickten aus dem Garten. Sie kamen näher, blieben aber die ganze Zeit im Garten. Zwei riesige Augen, dass einem vom Ansehen übel wurde. Immerzu sickerte etwas über diese Augen. Und links an der Seite war noch ein drittes … oder drei? Und irgendetwas wälzte, wälzte und wälzte sich über das Geländer der Veranda und sickerte schon heran bis zu den Füßen. Es war unmöglich sich zu bewegen. Grigori war irgendwo verschwunden und nicht mehr zu sehen. Elja war in der Nähe, aber auch nicht mehr zu sehen. Man konnte nur hören, wie sie hysterisch kreischte - oder lachte? Da öffnete sich die Tür zum Zimmer. Darin wimmelte es hüfthoch von zappelnden, gallertartigen Leibern, aber die Augen dieser Leiber waren da draußen, hinter den Sträuchern …
Da begriff Anatoli Sergejewitsch, dass hier etwas ganz Furchtbares vor sich ging und noch Schlimmeres bevorstand. Er riss die Füße aus den am Boden festgeklebten Sandalen, sprang über den Tisch, stürzte in den Wald, und als er um die Ecke des Hauses bog … Nein, er war nicht um die Ecke gebogen … Hm, das war merkwürdig, er war in den Wald gestürmt, fand sich aber plötzlich auf dem Platz wieder … Dann rannte er darauflos und sah auf einmal den Klubpavillon, und durch die offenen Türen den fliederfarbenen Lichtblitz des Null-T … Er wusste, er war gerettet … und stürmte in die Kabine, hämmerte mit den Fingern auf die Tasten, und dann, endlich, startete die Automatik.
Damit hatte die Tragödie ein Ende. Was nun begann, glich eher einer Komödie: Der Null-Transporter spuckte Anatoli Sergejewitsch in der Ortschaft Roosevelt aus, gelegen auf der Peter-I.-Insel. Diese liegt in der Bellingshausener See, das Thermometer zeigt 49 Grad unter null, die Windgeschwindigkeit beträgt achtzehn Meter pro Sekunde. Der Ort steht den Winter über leer.
Aber im Klub der Polararbeiter ist die Automatik eingeschaltet, es ist warm dort, gemütlich, und in der Bar glitzern in Regenbogenfarben Flaschen mit allerlei Flüssigkeiten, wohl, um die Finsternis der Polarnächte aufzuhellen. Anatoli Sergejewitsch - im bunt gemusterten Hemd und Shorts, noch immer tropfnass vom Tee oder von der durchlebten Angst, erhält die notwendige Atempause und kommt langsam wieder zu sich. Und da erfasst ihn, wie zu erwarten, eine unerträgliche Scham. In Panik ist er davongelaufen wie der letzte Feigling - von solchen Feiglingen hatte er bisher nur in historischen Romanen gelesen. Er hat Elja und noch eine Frau, die er flüchtig im Nachbarcottage gesehen hatte, im Stich gelassen. Er erinnert sich an die Kinderstimmen am Fluss und sieht, dass er auch diese Kinder im Stich gelassen hat. Ein verzweifelter Impuls zu handeln ergreift von ihm Besitz, doch seltsam - er stellt sich nicht sofort ein. Und auch als er sich einstellt, hält er sich gerade die Waage mit dem ungeheuren Entsetzen, das er bei dem Gedanken empfindet, dass er, Anatoli Sergejewitsch,
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