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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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lebhaften Begierde ergriffen worden. «Ich möchte jetzt wissen, wer Sie sind!?» verlangte sie zu erfahren, und das war nun freilich ein weibliches Vorrecht, dem man sich schlechterdings nicht widersetzen konnte. Wieder war die gleiche, etwas lächerliche Unsicherheit an dem Fremden zu bemerken wie vorhin, als er den Gruß mit dem Hut nachgetragen hatte; es schien ihn im Arm zu jucken, daß er seine Kopfbedeckung abermals förmlich lüpfe, dann aber versteifte sich etwas, eine Gedankenarmee schien einer anderen eine Schlacht zu liefern und schließlich zu siegen, statt daß eine spielleichte Sache spielend geschah. «Ich heiße Lindner und bin Lehrer am Franz-Ferdinand-Gymnasium» gab er zur Antwort und fügte nach einer kleinen Überlegung hinzu: «Auch Dozent an der Universität.»
    «Dann kennen Sie ja vielleicht meinen Bruder?» fragte Agathe erfreut und nannte ihm Ulrichs Namen. «Er hat, wenn ich nicht irre, in der Pädagogischen Gesellschaft vor nicht langer Zeit über Mathematik und Humanität oder etwas Ähnliches gesprochen.»
    «Nur dem Namen nach. Und ja, dem Vortrag habe ich beigewohnt» gestand Lindner zu. Es schien Agathe, daß in dieser Antwort eine Ablehnung liege, aber sie vergaß es über dem Folgenden:
    «Ihr Herr Vater war der bekannte Rechtsgelehrte?» fragte Lindner.
    «Ja, er ist vor kurzem gestorben, und ich wohne jetzt bei meinem Bruder» sagte Agathe frei. «Wollen Sie uns nicht einmal besuchen?»
    «Ich habe leider keine Zeit für gesellschaftlichen Umgang» erwiderte Lindner mit Schroffheit und unsicher niedergeschlagenen Augen.
    «Dann dürfen Sie aber nichts dagegen haben,» fuhr Agathe fort, ohne sich um sein Widerstreben zu kümmern «wenn ich einmal zu Ihnen komme: ich brauche Rat!» – Er sprach sie noch immer als Fräulein an: «Ich bin Frau» setzte sie hinzu «und heiße Hagauer.»
    «Dann sind Sie am Ende» – rief Lindner aus – «die Gattin des verdienstvollen Schulmannes Professor Hagauer?» – Er hatte den Satz mit einem hellen Entzücken begonnen und dämpfte ihn gegen Ende zögernd ab. Denn Hagauer war zweierlei: er war Schulmann, und er war ein fortschrittlicher Schulmann; Lindner war ihm eigentlich feindlich gesinnt, aber wie erquickend ist es, wenn man in den unsicheren Nebeln einer weiblichen Psyche, die soeben den unmöglichen Einfall hatte, in die Wohnung eines Mannes zu kommen, einen solchen vertrauten Feind entdeckt: der Abfall von der zweiten zur ersten Empfindung war es, was sich im Ton seiner Frage wiederholte.
    Agathe hatte es bemerkt. Sie wußte nicht, ob sie Lindner mitteilen solle, in welchem Zustand sich ihre Beziehung zu ihrem Gatten befinde. Es konnte zwischen ihr und diesem neuen Freund augenblicklich alles zu Ende sein, wenn sie es ihm sagte: diesen Eindruck hatte sie sehr deutlich. Und es hätte ihr leid getan; denn gerade weil Lindner durch mancherlei ihre Spottlust reizte, flößte er ihr auch Vertrauen ein. Der glaubwürdig durch seine Erscheinung unterstützte Eindruck, daß dieser Mann nichts für sich selbst zu wollen schien, zwang sie eigentümlich zur Aufrichtigkeit: er machte alles Verlangen still, und da kam die Aufrichtigkeit ganz von selbst empor. «Ich bin im Begriff, mich scheiden zu lassen!» gestand sie schließlich zu.
    Es folgte ein Schweigen; Lindner machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Agathe fand ihn nun doch allzu jämmerlich. Endlich sagte Lindner gekränkt lächelnd: «Dachte ich mir doch gleich etwas Ähnliches, als ich Sie antraf!»
    «Sie sind also am Ende auch ein Gegner der Scheidung?!» rief Agathe aus und ließ ihren Ärger frei. «Natürlich, Sie müssen es ja wohl sein! Aber wissen Sie, das ist wirklich etwas rückständig von Ihnen!»
    «Ich kann es wenigstens nicht so selbstverständlich finden wie Sie» – verteidigte sich Lindner nachdenklich, nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und betrachtete Agathe. «Ich glaube, Sie haben zu wenig Willen» stellte er fest.
    «Wille? Ich habe eben den Willen, mich scheiden zu lassen!» rief Agathe aus und wußte, daß es keine verständige Antwort war.
    «Nicht so ist das zu verstehn» verwies es ihr Lindner sanft. «Ich will ja gerne annehmen, daß Sie triftige Gründe haben. Aber ich denke nun einmal anders: Freie Sitten, wie man sie sich heute gewährt, kommen im Gebrauch doch immer nur auf ein Zeichen dafür hinaus, daß ein Individuum unbeweglich angeschmiedet liegt an sein Ich und nicht fähig ist, von größeren Horizonten aus zu leben und zu

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