Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
Vom Netzwerk:
expressionistische Bildhauer par excellence, scheint seine Ausdruckskraft auf Kosten der autonomen Durchbildung seiner Figuren erlangt zu haben, trotz der heroischen Anstrengung, beides zusammenzuzwingen. Wer Skulpturen machen wollte, die, in handgreiflichem Sinn, so sind wie die Musik der zweiten Wiener Schule, verleugnet den Stein, anstatt ihn zu durchdringen. Wotruba ist ein viel zu elementares Temperament, auch viel zu klug, als daß er jener Versuchung nachgegeben hätte.
    Aber damit ist die außerordentliche Differenziertheit seiner Reaktionsweise den Gebilden nicht verloren. An ihnen läßt sich lernen, daß man anders nuanciert sein kann, heute vielleicht sein muß, als durch die offenbare Nuance. Differenzierte Reaktionsweise vermag sich zu verwandeln in ein System von Allergien, in unersättliche Empfindlichkeit all dem gegenüber, was nicht mehr geht. Die Nuanciertheit Wotrubas ist eine des Verschwindens: durch die refus, durch das, was ein Künstler sich verweigert, wird das Verweigerte zugleich festgehalten. Wotruba spricht von seinen Arbeiten als von Reduktionen. Tatsächlich zeigen verschiedene Stufen desselben Gegenstandes – analog übrigens zu gewissen Vorgängen in der Graphik Picassos – fortschreitenden Verzicht auf die noch von Ähnlichkeit genährte Ausgangsvorstellung. Dieser Prozeß, nicht das Nettoresultat, ist der Ort von Wotrubas Differenziertheit. Der Ausdruck seiner Gebilde, das, wodurch die Rechnung nicht aufgeht, ist, was im Prozeß aus ihnen ausgeschieden ward und gleichwohl, in der Arbeit und Anstrengung des Eliminierens, seine Spur hinterließ. Von seinen extremen Polen her charakterisiert, wäre jener Prozeß wohl der vom Akt zur Architektur. Le Corbusier hat seine architektonischen Entwürfe auf Menschenmodelle abgestellt; bei Wotruba wandern diese Menschenmodelle gleichsam in die tektonischen Gebilde ein, Bauten ohne Zweck, Chiffren des nicht länger nachahmbaren Menschen.
    Wotruba, wie vor fünfzig Jahren manche der bedeutendsten Expressionisten, lehrt im Begriff des Archaischen zu differenzieren. Schlecht ist alles Archaisierende: was auf die Restitution vorgeblicher Urbilder, sei's der Vorvergangenheit, sei's des abstrakten Seins, hinauswill und dabei doch, unwillentlich, im Umkreis des zivilisatorisch Approbierten verbleibt. Man braucht nur die angeblich urtümlichen, in Wahrheit nur simplen rhythmischen Wiederholungen bei Orff, die mit unangefochten tonalen Akkorden haushalten, mit den komplexen Produkten Wotrubas zu vergleichen, um zu erkennen, wie wenig die gewonnene und kunstvolle Einfachheit, die ihm vorschwebt, mit den gängigen und fatalen archaisierenden Neigungen zu tun hat. Wie die Reduktionen, in denen seine Arbeit besteht, Prozeß, ein Geschichtliches sind, so ist ihre Idee kein Vorgeschichtliches, sondern Konsequenz des umfassenden historischen Prozesses, der mikrokosmisch in jeder seiner Plastiken sich verschließt. Sie erborgen sich weder die verlorene sinnvolle Monumentalität, noch geben sie sich zur Sprache eines individuellen Seelenlebens her, das, unter der Übermacht der objektiven Bedingungen, kaum mehr ohne Lüge und falschen Anspruch sich manifestieren darf. Was eine solche Plastik sei, wo sie ihren Ort habe, das ist ihr, in doppeltem Sinn, verhängt. Die Skulpturen Wotrubas sind Architektur ins Unbekannte hinein.
     
    1967
     
     

 
IV
Miscellanea
     

Wir brauchen es
     
    Auf einem jener Bändchen, bei deren Erwähnung man das Epitheton »schmuck« nicht vergessen sollte – früher nannte man sie gebildet »Anthologien« – auf solch einer schmucken Anthologie fand ich jüngst eine gedruckte Empfehlung des folgenden Inhalts: » Sie brauchen es, täglich wenigstens einmal, an etwas anderes zu denken als an Geld und Gold. Von Beethoven – Bonsels – Dehmel – Eucken – Fichte – Flaischlen – Goethe – Hauptmann – Hebbel – Hesse – Hölderlin – Huch – Keller – Keyserling – Lienhard – Morgenstern – Nietzsche – Raabe – Storm – Wagner u.a. ein Gedanke für jeden Tag.« – Wer die Syntax des Einleitungssatzes überstanden hat, der sieht sich im Reiche solcher literarischen Nachbarschaften einer Fülle phantastischer Möglichkeiten gegenüber: er kann sich alsogleich von der Mondscheinsonate auf Flügeln des Gesanges zur Indienfahrt tragen lassen (schade, daß Mendelssohn nicht auch mit B anfängt), wobei jedoch sein moralisches Gleichgewicht arg ins Schwanken gerät; eben noch war an ihn der kategorische Imperativ

Weitere Kostenlose Bücher