Gesammelte Werke
hin und her zu schieben, wie die Passagiere es waren, die umfielen, wenn die Lokomotive gegen den Bahnhof fuhr, falls der zu dicht an die Schienen gerückt war; aber jetzt welche, so plastisch und beredt wie damals allein die Koffer, die sie nun gleichsam ergänzen. Die Ankommende liebte er als eine vollständige Figur, die ihm damals fehlte und die jetzt kein langes Leben retten könnte, sondern einzig der jähe Augenblick ihres Erscheinens. Längst ist es in der Nacht vergessen. Jedoch wenn beide am nächsten Tag, gegen Mittag schon, das Hotel verlassen, dann erkennt er: die kleine rotweiße Fahne, die über dem Hotel flattert, ist die gleiche, die er damals mit der hohlen Fahnenstange aus Blech über dem allerersten Bahnhof aufpflanzte.
Es ist erstaunlich und kaum wohl von Psychologen offen ausgesprochen worden: wie selten unsere Gefühle, zumindest die offiziellen unter ihnen, Konsequenzen haben. Sie bleiben, auch wenn sie echt sind, bei sich selber und gehen nur verzerrt ins Verhalten der Menschen ein. Kaum daß sie mehr dort ihre Macht oder Ohnmacht erproben dürfen; von Anbeginn bescheiden sie sich im Monolog, und unsere Handlungen werden eben noch von ihren Reflexen gestreift. Der hat seine Geliebte, seine wahrhaft und einzig Geliebte an den Irrsinn verloren; und während er um sie trauert, jeden ihrer Briefe nachliest, Spuren der Krankheit darin zu finden; den Klang ihres Namens festhält und beschwörend wiederholt: hat er eine andere sich genommen; nicht weil er die erste vergessen hätte, auch nicht um sich zu trösten oder in der Gleichgültigkeit der Verzweiflung, sondern darum allein, weil sein befangenes Gefühl den Gang eines Lebens nicht mehr zu erreichen vermag, das nach dem Rhythmus von Gelegenheit und Zugriff unerbittlich abläuft. Wenn dann später sich herausstellt, daß die erste nicht irrsinnig war, sondern bloß taktvoll den Geliebten verlassen wollte, so rechtfertigt ihn höhnisch das gleiche Leben, das ihn zur Untreue verführte. – Oder die Frau, die einen liebt und mit ihm von sich selber redet; die weint, sobald er sie angreift, und unter seinen Worten gänzlich sich zu verändern meint, indem sie sich zu erkennen beginnt: am nächsten Tage wird sie vor ihren Eltern leugnen, daß sie ihn kennt, obwohl die Mutter kein Recht hätte, ihr Vorhaltungen zu machen, und die Veränderung ihres Lebens, mag sie selbst als eine der Gesinnung vollständig sein, wird nicht hinreichen, sie zu bewegen, morgen dort den Tee mit ihm zu nehmen, wo sie gesehen werden könnte. Darüber jedoch wird ihm alles wirkliche und vergebens erwartete Zeichen ihrer Zugehörigkeit so wichtig, daß er sie zu lieben vergißt. Die Übermacht der gesellschaftlichen Mächte über unsere Existenz kommt mehr als an den Konflikten daran zutage, daß sie die Konflikte überhaupt nicht mehr zulassen, sondern ersticken; daß der einzelne sie verschluckt. Es sind schon die besten und glücklichsten Beziehungen, die es überhaupt zu Konflikten bringen. Darum: weil vom einzelnen Menschen aus die Realität kaum mehr ergriffen, nie mehr verändert werden kann, haben heute Gefühle allemal etwas Tröstliches; bei ihnen hält man sich schadlos. Aber sie sind trügerisch; sobald das leiseste von ihnen in unser Leben eindränge, genügte es, alle sichere Ordnung darin zu zerstören.
Schon der Husten spricht fürs Klassenbewußtsein. Dem Husten von Leuten aus den herrschenden Schichten ist die Wichtigkeit anzuhören, die er wenigstens für die Hustenden besitzt: die pure Krankheit oder den zufälligen Reiz kann er nicht zugestehen, sondern gibt sich allemal so, als handle es sich um die Vorbereitung zu einer Ansprache, die nicht unterlassen werden dürfe, ohne die objektiv notwendige Durchführung der Ansprache zu gefährden. Der Husten von Kleinbürgern kennt nicht die Wichtigkeit der Sache, für die er einsteht; er ist sich selber wichtig, lang und umständlich; wird um der Gesundheit willen gehustet, die zur Ordnung gehört und der das Leben untersteht; prüfend hört er sich zu. Der proletarische Husten klingt gepreßt und aggressiv, immer unreflektiert und ohne daß er eine Bedeutung sich setzte. Er wird nicht für die kommende Rede oder die gegenwärtige Gesundheit gehustet, sondern um die Lunge vom Staub zu reinigen. – So sind noch die animalischen Äußerungen unseres Lebens Zeichen von gesellschaftlichen Differenzen. Man möchte fragen, wo eigentlich das Wesen Mensch erfragbar sein soll, das vielleicht noch in der
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