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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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entlegensten Klang gelingen. Wenn die Linien unseres Schicksals zum unentwirrbaren Netz sich verstricken, dann sind Namen je und je die Siegel, die der Lineatur aufgeprägt werden; die sie vor unserem Zugriff schützen und uns behüten, darin uns zu verfangen, indem sie uns Initialen vorhalten, die wir nicht verstehen, aber denen wir gehorchen.
     
    1930
     
     

Wiener Memorial
     
    Beginn.
Am ersten Abend in der Stadt, deren Straßenlinien im Taxi unlesbar blieben, allein schon wegen dessen stoßweiser Fahrt, nahm ich spät noch den Tee bei einem jungen Russen in der Laudongasse. Gegen Mitternacht erst brachte er mich aus den viel zu großen, gähnend offenen Fenstern mit dem schmal zur Wand gedrückten Ameublement zurück ins nahe Hotel. Die Laudongasse ist schlecht beleuchtet wie die ganze Josefstadt und vielleicht die Mehrzahl der äußeren Quartiere. Im regnerischen Märzschnee stand das Zeughaus aus dem Barock und ein gastropfendes Caféhaus trüb und ohne Unterschied an den Ecken. Die Straßen, die folgten, schienen dunkler noch mit ihrer planlosen Gedehntheit. Eine Kreuzung mit einer breiteren endlich glich einer Lichtung, ohne die Leere der gleichsam versperrten Seitengänge zu beheben. Auf der breiten Straße kam uns ein Trupp von fünf oder sechs jungen Männern entgegen. Sie waren betrunken; noch ihrer mächtig zwar, aber sichtlich jeder beeinträchtigt in seiner körperlichen Selbständigkeit, einer Halt suchend beim anderen. So gingen sie verbunden über die Breite der Straße und mochten willens sein, uns vom Bürgersteig zu verdrängen. Als wir nach wenigen Sekunden nahe genug waren, traten sie in zwei Reihen auseinander, bildeten Spalier vor uns. Einer von ihnen sprach uns laut an im Tone des Führers: »Meine Herrn! Es geschieht absolut gar nix!« Dann ließen sie uns durch und zogen stumm weiter.
     
    Bild.
Am folgenden Nachmittag um fünf Uhr etwa ging ich aus, um mich zu orientieren. Es führte mich eine junge Dame, die sich auskannte. Weil sie sich auskannte, versäumte sie, mich zu unterweisen. Besorgt und unermüdlich nannte sie mir die Namen aller Gebäude und Plätze. Sie verschwieg mir, wie jene sich zueinander verhielten, im Dämmer konnte ich selber es nicht ausmachen. Wir standen vor dem Stephansdom, als ich mich noch im achten Bezirk meinte. Ich verzichtete, ihn zu betreten. Danach folgte ich der jungen Dame in das Café Herrenhof, wo sie mit einer Freundin verabredet war. Dort saßen in mehreren Räumen zahlreiche ältere Herren von durchwegs gleichem, abgeschiedenem Aussehen, spielend an Schachtischchen oder größeren Tischen. Wir mußten sie alle erst passieren, ehe wir die Freundin fanden. Die Freundin hatte lange spitze Hände, eine klagende Stimme und hieß Elsie. Nachdem wir den süßen und gewichtigen weißen Kaffee getrunken, beschlossen zögernd die beiden Mädchen, es sei gut, mir mehr noch von der Stadt zu zeigen.
     
    Ca. 1930
     
     

Worte ohne Lieder
     
    ... Du hättest zu tun mit der Eisenbahn,
    und nicht zu tun mit der See.
    Bert Brecht
     
    Wie wenig wissen doch Liebende. Da meint einer, der tief abends im Winter auf den verspäteten Zug angestrengt wartet; der an der Sperre beobachtet, ob das Licht über der fernen Einfahrt sich entzündet, von dem er nicht einmal weiß, ob es das rechte ist; der stets wieder den Beamten nach der Größe der Verspätung fragt, der ihm unfreundlich antwortet, er habe es bereits gesagt, fünfundzwanzig Minuten – da meint einer, diese sei es nun ganz und gar und wirklich, die als letzte fast das Abteil verläßt; die schlank im Pelzmantel auf die Sperre zukommt, an der noch dampfenden Lokomotive vorbei, den kleinen schwarzen Hutkoffer in der Hand, gefolgt vom grünen Gepäckträger mit dem größeren Lederkoffer: diese sei es nun selber. Sobald sie Arm in Arm die Bahnhofshalle verlassen und redend den Platz überqueren, hat er, umschlossen von ihrer Gegenwart, bereits wieder vergessen, daß es bloß die Ankunft war, auf die er wartete. Im Bilde der Ankunft aber war sie nur die leichte Staffage, den wartenden Blick ins Dunkel zu geleiten. Dort lag die Eisenbahn als Spielzeug, Modell jeder künftigen, und kleine flachgepreßte Figürchen bevölkerten den rosa Blechbahnhof, die Dame im Mantel samt dem Gepäckträger. Damals waren allein die Kofferstücke rund und zum Greifen; die Leute aber, von vorn gesehen, bildeten bloß eine zackige Kante. Seitdem hat er nichts anderes sich gewünscht, als einmal wieder Figuren so zu halten und

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