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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Geste des Todes eingeschlossen ist von einer geschichtlichen Figur, von der es sich nicht losreißen läßt.
     
    Mutiger als das gewagteste Verbrechen mitten im überfüllten Opernraum; mutiger als die tollkühnste Verfolgung durch den Amateur-Kriminalisten, der sich unmenschlichen Gegnern in die Hand gibt und dem sicheren Martertod ins Auge sieht, getröstet allein von der größeren Sicherheit des guten Endes: mutiger als all dies erschien mir von jeher in Detektivromanen die Art, in der alle Menschen hier ihre Namen tragen. Sie treten mit ihnen, den echten und den falschen, auf, als seien sie ihnen vom Beginn der Zeiten her zum Augenblick ihrer Geburt zugesprochen, und nicht der leiseste Zweifel beirrt sie, wenn sie sich sogleich im vollen Schmuck des Namens präsentieren. Wieviel Mut gehört doch dazu, überhaupt zu heißen. Während die ernsten Romanschriftsteller alles erdenklichen Taktes bedürfen, damit ihre Figuren von der Rüstung des Namens nicht erstickt werden – zu Anfang der Wahlverwandtschaften entschuldigt Goethe sich gleichsam, daß der Held Eduard heißt, obwohl der Name des reichen Barons in den besten Jahren doch unauffällig und diskret bleibt und nicht einmal den Nachnamen herbeizieht –: tragen sie in Detektivromanen stark und frei die Schwere der Namen, wie wenn es von selbst sich verstünde; wie mythische Helden der Vorzeit, deren Ruhm zum Himmel ansteigt und im Echo des Namens von dort auf sie zurückfällt, ohne sie zu zerschmettern. Brentheim und Racoszy, Maxime Kalff und der Wucherer Jaerven, Miß Winterslip und Jennyson – indem sie schlankweg also heißen, ist jeder Name ein Versprechen, denn allein die Größe des Schicksals vermag nachträglich die Gewißheit der Namen zu legitimieren. Der Detektivroman selber aber ist dann nichts anderes als die Geschichte von solchen, die ihren Namen Ehre gemacht haben.
     
    Auch solche Darstellungen, die sich realistisch oder naturalistisch glauben, stecken in Form und Konstruktion voll unaufgelöster Mythologie; während andere, die scheinbar die gesellschaftliche Wirklichkeit artistisch verändern, gerade durch die Technik der Veränderung die mythischen Chiffren auflösen. So ist im Roman seit Balzac trotz aller sozialen Kritik eines fraglos geblieben: daß die Menschen in Beziehung zueinander treten können. Wohl verbiegt die Gesellschaft die Beziehungen, wohl erhebt aus der Unerreichbarkeit der Liebenden unerbittlich am Ende sich Einsamkeit. Aber es ist eine abstrakte und vorgegebene Einsamkeit; eine der Seelen, die von seelischem Trost erleuchtet und gemildert werden kann. Wann aber hätten Romane es sich zum Vorwurf genommen, daß es zu Beziehungen überhaupt nicht kommt; daß die Menschen deshalb sich nicht erkennen, weil sie sich nicht einmal kennenlernen? Jack London etwa hat die Klassendifferenzen als Grenzen der menschlichen Beziehungen dargestellt. Aber im Raume einer homogenen Klasse, der proletarischen, nimmt er Beziehungen an. Die Unmittelbarkeit, die er hier vermutet, ist romantisch. Die Verhältnisse lassen den Menschen weder die Freiheit des Wählens noch einen zureichenden freien Lebensraum, in dem sie kommunizieren könnten; sie ›haben wenig Verkehr‹. Die Qual der kleinbürgerlichen Neugier, des Vereinswesens, des ›Ausgehens‹ am Sonntag sind isoliert beschrieben worden, noch nicht aber gänzlich als Produkte der Klassenherrschaft durchschaut. Die politische Organisation ist die einzige tragfähige zwischenmenschliche Beziehung, die hier übrigbleibt. – Romane aber, die sich ernstlich um solche reale Einsamkeit mühen, wie Kafka oder Greens Adrienne Mesurat, fallen sogleich aus dem Realismus des sozialen Romans heraus; weil sie nicht die Oberflächengestalt der gegenwärtigen Gesellschaft respektieren, in der sie sich selber gibt, sondern eben den Abgrund der Absurdität aufreißen, den sie verdeckt und überspielt: den Abgrund des Wahnsinns, in den die Einsamen einstürzen. Es wäre ernstlich zu fragen, ob realistische Romane überhaupt noch realistisch sind: ob nicht die getreue Abbildung des Erscheinenden ungewollt all das mit übernimmt, was am Erscheinenden Schein ist, und vergißt, was es verhüllt; während erst eine Durchbrechung des geschlossenen Erscheinungszusammenhanges – die auch den Kausalmechanismus nicht umstandslos anerkennt, den er darbietet – die eigentliche, verhüllte Realität erreichen und enthüllen könnte, indem in der frisch zusammengesetzten Figur der Erscheinungszusammenhang

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