Gesammelte Werke
vergleichbare Studien aus früheren Stadien des hochindustriellen Zeitalters nicht vorliegen. Wenn die Befragten häufig die höhere Arbeitersolidarität der Vergangenheit rühmen, so erlaubt das Material nicht, zu entscheiden, ob darin ein Wahres steckt, oder ob das Unbehagen an einem Zustand, in dem man sich trotz aller Interessenvertretungen als ohnmächtiges Atom empfindet, zur laudatio temporis acti verführt, derart, daß man auf die heroischen Zeiten der Arbeiterbewegung das projiziert, was einem fehlt und wofür man lieber als sich selbst die Zeitläufte schlechthin verantwortlich machen möchte. Immerhin lassen sich Momente angeben, die das systemimmanente Denken der Befragten erklären helfen. Dazu gehören zunächst die Besserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Proletarier, die Loslösung der Gewerkschaften von den politischen Parteien, der Mangel an politischer Schulung und die mit dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur einsetzende Skepsis gegen die Sphäre der Politik überhaupt als eine der bloßen Propaganda. Wesentlich dürfte auch die Kompromittierung des Sozialismus durch Rußland sein, den Machtstaat, der sich als sozialistisch behauptet und jedem nicht mit Verblendung Geschlagenen als barbarische Despotie sich zeigt, in der die Arbeiter bis zur Sklaverei sich ausgebeutet und unterdrückt finden.
Nennt man den Bewußtseinsstand der Befragten ›konkretistisch‹, so muß man sich dabei zunächst im klaren darüber sein, daß sie schwerlich konkretistischer sind als andere Gruppen der in ihren subjektiven Bewußtseinsinhalten von der Massenkultur weitgehend nivellierten Bevölkerung. Solcher Konkretismus ist aber keineswegs primär als sozialpsychologisches Phänomen aufzufassen. Er spiegelt vielmehr wider, was objektiv-gesellschaftlich sich abspielt; in ihm manifestiert sich subjektiv eine objektiv entfremdete Gesellschaft. Die Komplexität der modernen Wirtschaft ist den nicht genau Geschulten heute undurchsichtiger als je. Diese Undurchsichtigkeit gilt keineswegs nur fürs Ganze sondern bereits für die industrielle Hierarchie, deren obere Instanzen den Arbeitenden funktionell und personell so fern gerückt sind, und auf die sie so wenig glauben einwirken zu können, daß sie auch nur gering an ihnen interessiert sich zeigen und damit zufrieden sind, das, was etwa zu ihren Gunsten sich durchsetzen läßt, an Sachverständige und Funktionäre, an Spezialisten des Arbeiter-Sektors zu delegieren, die mit den Spezialisten des Kapitals auf gleicher Ebene sich träfen. Die Entfremdung der lebendigen Menschen von den vergegenständlichten gesellschaftlichen Mächten ließe sich durchdringen erst von einer Theorie, welche diese Entfremdung selbst aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ableitet. Eine solche Theorie, und die Anstrengung des Begriffs, die sie den Arbeitern zumutet, hätte einzig dann Aussicht, diese zu ergreifen, wenn sie ihnen zugleich als praktisches Mittel zur Verbesserung ihrer eigenen Lage einsichtig wäre. Gerade davon aber kann keine Rede sein angesichts der russischen Entwicklung, in der, unter dem Motto der Einheit von Theorie und Praxis, die Theorie zur Staatsreligion geworden ist, die man nachzubeten hat, während jede kritische Anwendung der Theorie mit Hinsicht auf die angeblich vordringlichen praktischen Aufgaben hintertrieben wird. Vor solchen Entwicklungen ist die Theorie selbst um so weniger gefeit geblieben, als manche ihrer Thesen, insbesondere die der stetig wachsenden Verelendung, in ihrer alten Gestalt sich nicht bewahrheitet haben und nur von Wahnsystemen weiter behauptet werden können. An einer angemessenen, weder opportunistisch den Verhältnissen sich anpassenden, noch die alten Begriffe bloß dogmatisch festhaltenden Weiterentwicklung der Theorie fehlt es ebenso wie an Menschen und Institutionen, die den Arbeitern auch nur noch die alte Theorie zuverlässig übermitteln, geschweige denn diese zu aktuellen Erkenntnissen weitertreiben würden. Die Resignation der Arbeiter zieht lediglich das Fazit aus diesem Stand der Dinge. Nichts wäre falscher und pharisäischer, als ihnen ›Verbürgerlichung‹ vorzuwerfen, wie wenn sie ihre Ideale aus Sattheit preisgegeben und damit nachträglich widerlegt hätten. Die objektive Verfassung der Welt und der organisatorische Zustand der Arbeiterschaft läßt dieser kaum mehr eine andere Wahl als in der Sorge ums Nächste sich zu erschöpfen. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit wird von den Arbeitern nur noch als
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